Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Adelboden oder Aleppo

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Adelboden oder Aleppo
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – In der Wirtschaft neigen wir dazu, möglichst alles in Zahlen auszudrücken und zu messen. Das liegt daran, dass dann die Effekte unseres eigenen Wirtschaftens und im Besonderen auch die Effekte der Wirtschaftspolitik vermeintlich interpretierbar sind, weil messbar, objektiv und eindeutig quantifiziert. Über Mehr oder Weniger kann man nicht streiten, das Resultat ist stets eindeutig. Zumindest scheint dies so. 1% Inflation sind weniger als 3%, da gibt es nichts zu diskutieren, offen bleibt, welcher Wert tatsächlich besser ist. Es gibt aber jedenfalls einen Zahlenkranz von quantitativ messbaren Indikatoren und daraus eventuell folgende Reaktionen der Wirtschaftspolitik.

Natürlich sind diese Konzepte vage. Trotz klarem Massstab ist nicht klar, ob den nun 1% besser als 3% sind oder umgekehrt. Das hält meine Zunft aber nicht davon ab, Handlungsbedarf abzuleiten, wenn quantitative Masszahlen aus dem Ruder laufen, selbst wenn am Ende auch nur improvisiert wird. Damit sind indes Werturteile verbunden. Letztlich fällen auch die Notenbanken Wertungen, weil sie minus 0.5% Inflation offenbar als schädlicher empfinden als 2%, obwohl das überhaupt nicht klar ist. In Bereichen unseres Alltags, die fast nur durch qualitative und nicht irgendwie messbare Merkmale geprägt sind, ist es gar nicht so viel anders. Die individuelle Einstufung in besser oder schlechter beinhaltet jeweils Einschätzungen, die auf subjektiven Empfindungen beruhen. Ist es in Adelboden schöner als in Arosa? Lieber Urlaub am Meer oder in den Bergen, blonde oder schwarze Haare, Jeans oder Buntfaltenhose? Reine Geschmackssache und mit jeder Entscheidung für das eine oder andere ist ein Werturteil verbunden, ähnlich wie in der Wirtschaftspolitik. Wie sieht das aber mit Aleppo aus?

Obama: no, I couldn‘t
Es gibt quantitative Grössen, aus denen der politische Handlungsbedarf in Syrien längst schon eindeutig abgeleitet werden könnte. Fünf Jahre Krieg etwa mit fast einer halben Million Toten und Millionen Vertriebenen in Syrien sind Grössenordnungen, die eine klare Sprache sprechen. Dazu kommen die qualitativen Beobachtungen wie Hinrichtungen vor laufender Kamera, Kinderleichen an Urlaubsstränden oder Massenbombardements – lediglich die Spitze eines Eisberges, wie wir alle wissen. Doch der Westen empört sich höchstens noch, während er immer mehr abstumpft. Damit einher geht die Bankrotterklärung der westlichen Hemisphäre vor der Lösung internationaler militärischer Konflikte.

Dass Barack Obama den syrischen Diktator seinerzeit ungesühnt sein Volk mit Giftgas einnebeln liess und dazu lediglich mit Säbeln rasselte, war der Anfang des schier endlosen Leides, das uns immer stumpfer macht. Im Kampf gegen die Folgen des Lehman-Debakels ging Obama gemeinsam mit den westlichen Regierungen aufs Ganze und scheute dabei keine Mittel. Zwei Billionen Dollar liess sich die Welt die Wiederbelebung der Wirtschaft kosten. In Syrien wird nur ein Bruchteil davon investiert. Man rechtfertigt sich damit, dass die Lage undurchsichtig und alles andere als eindeutig sei, weshalb man lieber die Finger davon lässt. Die Intransparenz legitimiert sozusagen das Nichtstun und Zusehen, trotz unzähliger qualitativer und quantitativer Beweise für dringenden Handlungsbedarf.

Ohnmacht nach dem langen Zusehen
Längst geht es in diesem Krieg nicht mehr um die Absetzung Baschar al-Assads oder die Demokratisierung des Landes. Einen eigentlichen Zweifrontenkrieg gab es ohnehin nie, dafür Konfliktherde zuhauf. Während der Westen dies beobachtete, wurde die Lage zusehend undurchschaubar. Inzwischen mischen fast alle irgendwie mit. Der schiitische Iran und seine libanesische Hisbollah Miliz sind weniger an Syrien interessiert als daran, dem sunnitischen Saudi-Arabien eins auszuwischen. Einen Stellvertreterkrieg führen auch die Russen und Amerikaner, zwar sind beide gegen den Islamischen Staat, aber nur die Amerikaner gegen Assad. Die Kurden schliesslich sind auch keine Altruisten und versuchen möglichst viel für sich herauszuholen. Diese komplexe Konstellation schreckt den Westen ab. Er hat den Moment, dem Elend Einhalt zu gebieten, längst verpasst. In der Türkei läuft im Moment ähnliches ab. Assad hat schliesslich vorgemacht, wie man vor den Toren Europas der NATO auf der Nase herumtanzen kann.

Krasses Werturteil
Mit der Passivität, ja Ohnmacht des Westens in Syrien ist ein unsägliches politisches, ja weltanschauliches Werturteil verbunden. Menschenleben im Nahen Osten sind weniger wert als der krampfhafte Erhalt wirtschaftlichen Wohlstands, eines maroden Finanzsektors oder von Arbeitsplätzen im Westen. Die Botschaft an Assad lautet implizit, dass er weiter töten darf, solange der Rest der Welt zusieht oder sich mit anderem beschäftigt. Trotzdem tun noch immer viele so, als ob Appelle zur Mässigung und vor allem der diplomatische Weg den Konflikt in Syrien am ehesten beenden können. Und dies obwohl man mit dieser Politik nur die Erfahrung gemacht hat, dass das Töten weitergeht. Hätte man 2008 mit den gleichen Konzepten gegen die Finanzkrise angekämpft, dann hätten wir heute tatsächlich Deflation, vielleicht sogar eine gefährliche. Fragt sich nur, was schlimmer wäre: Minus drei Prozent Inflation oder ein paar Tote mehr. Die Antwort des Westens darauf kennen wir. (Raiffeisen/mc)

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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