Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Alles neu macht der Mai
Der Mai ist der Monat, in dem die Menschen den Frühling am intensivsten spüren, sagt man, auch wenn er kalendarisch bereits im März begonnen hat. Der Mai wird daher auch als Wonnemonat bezeichnet und da der Frühling generell mit Neuanfang verbunden wird, kam es zur Redewendung „alles neu macht der Mai“, die auch Titel meiner heutigen Gedanken ist. Das gleichnamige Lied stammt von einem gewissen H. Adam von Kamp, der dieses im Ruhrgebiet als Lehrer und Schriftsteller zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb. Die Melodie dazu ist identischmit der des berühmten Kinderlieds „Hänschen klein“. Das könnte besser nicht passen zum Mai 2020, in dem alles anders ist, als wir es uns gewohnt sind, in dem wir kleinere Kreise ziehen als sonst und uns dabei gleichzeitig auch noch ziemlich klein vorkommen.
Neu ist im Mai 2020 tatsächlich fast alles – Corona lässt grüssen. Ein Blick in Richtung Norden zum Beispiel zeigt Erstaunliches. Die in Südeuropa als stets knauserig und im Rest Europas als übertrieben sparsam wahrgenommenen Deutschen haben sich in der Corona-Krise mit den Franzosen zusammengetan und sehen das nun plötzlich nicht mehr so eng mit der Schuldenunion. Das ausgerechnet, kurz nachdem das deutsche Bundesverfassungsgericht zum Urteil gelangte, dass die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise verfassungswidrig seien. Auf ein solches Urteil hatten sehr viele Deutsche, denen die ungezügelt geöffneten Geldschleusen der EZB und der dadurch in Fahrt gekommene Schuldenschlendrian schon länger ein Dorn im Auge waren, lange Jahre gewartet und gehofft.
Doch die Genugtuung darüber scheint zu spät zu kommen. Dass sich Deutschlands Kanzlerin nicht so einfach vom Kurs abbringen lässt, mussten die EU-Mitglieder bereits in der Eurokrise zur Kenntnis nehmen. Die damalige Rettungsübung war ein äusserst zähes Ringen und scheiterte mehrmals an Deutschland, das Geld auf keinen Fall ohne Auflagen verteilen wollte. Einmal nur zeigte sich Angela Merkel in den letzten Jahren wenig fundamentalistisch, als sie in der Flüchtlingskrise mit der Parole „wir schaffen das“ die Welt überraschte. Ob überwältigt oder überrascht spielt keine Rolle. Exogene Schocks scheinen für Frau Merkel jeweils auch besonders geeignete Gelegenheiten, sich aus der Vergessenheit wieder ins Spiel zu bringen. Fragten sich anfangs des Jahres die Deutschen noch, wo eigentlich die Kanzlerin steckt, hat sie sich nun so weit zurückgemeldet, dass manche sogar wieder rätseln, ob sie sich gar für eine weitere Legislaturperiode zur Verfügung stellt. Nicht wahrscheinlich, aber auch nicht ganz unmöglich, muss man dazu heute wohl sagen.
Sparsame Vier
Jedenfalls haben die Holländer nun die Rolle der Deutschen übernommen und bringen sich gemeinsam mit Schweden, Dänen und Österreichern als Sparsame Vier ins Spiel. Doch diese Allianz der Sparsamen ist ohne Deutschland nicht einmal eine Sperrminorität. Viel mehr ernten die vier Sparsamen Häme aus der europäischen Peripherie. Es fehle an Solidarität, sagen ausgerechnet Länder in der EU, die sich nie gross um Maastricht scherten, ihre Finanzen nie im Griff hatten aber immer Schlange standen, wenn es Geld zu verteilen gab. Wenn sich Deutschland nun dazu durchringt, diesen Ländern bedingungsloser als auch schon unter die Arme zu greifen, dann ist das tatsächlich mehr als eine Meldung wert. Letztlich bleibt nur noch zu hoffen, dass es den Vieren gelingt, die Schuldenunion, die schon längst einen Fuss in der europäischen Hintertüre hat, aufzuhalten. Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen werden angesichts der ihnen eigenen Unbescheidenheit und ihres ausgeprägten Selbstbewusstseins aber wahrscheinlich versuchen, aus diesem durch Corona ausgelösten Paradigmenwechsel in Deutschland politisches Kapital zu schlagen. Und Merkel und der ehrgeizige Macron witterten wohl die Chance, sich einen Platz in den Annalen gleich neben Helmut Kohl und François Mitterrand zu sichern.
Mogeln salonfähig
In Deutschland macht der Mai aber noch mehr neu. Nicht nur für die Rettung der Lufthansa, die in Resteuropa recht umstritten ist, sondern überhaupt für Rettungsschirme aller Art. Offenbar haben die EU-Länder bis anhin gegen die Folgen von Corona sagenhafte 2,3 Billionen Euro staatliche Beihilfen gesprochen, wie die EU-Kommission am Montag bekannt gab. Fast die Hälfte (47%) davon entfielen auf Deutschland, 18% auf Italien, 16% auf Frankreich und 4% auf Spanien. Deutschland stemmt aber einen deutlich geringeren Anteil der Wirtschaftsleistung der Europäischen Union (21,3%) als es nun Hilfen gewährt.
Nirgends sonst ist die Diskrepanz von Wirtschaftsleistung und Subventionsanteil grösser. In Spanien ist gar das Vorzeichen umgekehrt. Die vier Prozent Anteil an den gesamten Beihilfen liegt deutlich tiefer als der Beitrag zur EU-Wirtschaftsleistung gut 7%. Deutschland lässt sich selbst also die Krise am meisten kosten, was natürlich auch wirtschaftliche Verzerrungen in der Zukunft präjudiziert. Da man zudem auch noch die ohnehin stets gehätschelte Automobilindustrie mit einer Abwrackprämie retten möchte und dabei in Kauf nimmt, das Zeitalter der Verbrennungsmotoren künstlich zu verlängern, hält man nun den Ball politisch flach, um nicht unnötige Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das ist ein bisschen schäbig, aber letztlich der zumindest in der Eurozone vorherrschende Stil des sich Durchmogelns. Neu ist nur, dass Mogeln nun auch in Deutschland salonfähig ist.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen