Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Alles stabil?
Aus Neuchâtel kam am Mittwoch die erfreuliche Nachricht, die Schweizer Wirtschaft sei in den letzten Jahren stärker gewachsen, als bisher gedacht. Gemäss Bundesamt für Statistik legte die Wirtschaftsleistung 2018 um 2.8% zu, nicht um 2.5%. Auch die Werte für 2016 und 2017 (neu 1.7% respektive 1.8%) wurden nach oben korrigiert, zwar nur leicht aber immerhin. Das sind abgesehen von 2018 zwar keine „fetten Jahre“, aber allemal sehr ansehnliche.
Das gleiche Fazit gilt auch fürs restliche Europa. Dank dem Konjunkturaufschwung der letzten Jahre ist die Arbeitslosigkeit in der Eurozone heute (7.5%) wieder so niedrig wie vor der Finanzkrise. Für Schweizer Verhältnisse ist dies nach wie vor sehr hoch, aber die Tatsache bleibt, die Realwirtschaft hat sich zehn Jahre nach der Finanzkrise endlich erholt und dies nicht nur in Amerika. Und doch haben es die Geldhüter in Europa verpasst, ihre Leitzinsen auch nur annähernd zu normalisieren, leider auch in der Schweiz. Stattdessen geht die Ära der geldpolitischen Experimente in eine neue Runde.
Die Europäische Zentralbank (EZB) wird ihren Leitzins in zwei Wochen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch tiefer in den negativen Bereich senken und möglicherweise tut dies auch die SNB, die eine Woche später ihre vierteljährliche Lagebeurteilung kommuniziert. Derweil werden die bereits riesigen Bilanzsummen der EZB (40% des BIP) und der SNB (120% des BIP!) noch grösser. Die SNB stemmt sich wieder mit milliardenschweren Euro-Käufen gegen die Frankenaufwertung und die EZB wiederum dürfte am 12. September neben der Zinssenkung auch eine Wiederaufnahme der Anleihenkäufe beschliessen.
„Japanisierung“ statt Normalisierung
Das Dumme ist nur, dass mit der Zinspolitik kaum noch Handlungsspielraum besteht. Vielleicht reicht es noch für 1-2 kleinere Zinssenkungen, dann werden die Nebenwirkungen der Negativzinsen einfach zu gross. Ich glaube auch nicht dass weitere Zinssenkungen viel bringen würden. Laut einem gerade erschienen Arbeitspapier der Federal Reserve Bank of San Francisco können Negativzinsen sogar zu einem Rückgang der Inflationserwartungen führen, also genau zum Gegenteil davon, was eigentlich bezweckt wird. Hinter den Kulissen suchen die Währungshüter deshalb nach Alternativen. Vertreter von Blackrock, dem weltweit grössten Vermögensverwalter, fordern bereits die Einführung von Helikoptergeld. Blackrock-CEO Larry Fink regte zudem direkte Aktienkäufe durch die EZB an. Mittlerweile ist es gar nicht mal so unwahrscheinlich, dass seine Forderung über kurz oder lang erfüllt wird. Die japanische Notenbank, deren Bilanz auch schon 100% des BIP ausmacht, kauft neben japanischen Staatsanleihen schon seit Jahren auch heimische Aktien. Das gehört im Land der aufgehenden Sonne (und im Land der besonders experimentellen Geldpolitik) mittlerweile zum Standardrepertoire. Und nicht nur das. Die Bank of Japan (BoJ) kauft regelmässig auch Anteile an Immobilienfonds. Sie argumentiert dabei mit der „Preisstabilität“, die sie wie die meisten anderen Währungshüter mit Preissteigerungen von jährlich 2% definiert.
Falsche Kompassnadel
Gemessen an ihrem Inflationsziel ist die BoJ jedoch grandios gescheitert. Auch nach Jahren ultraexpansiver Geldpolitik liegt die Teuerung weiterhin unter 2%. In den meisten anderen Industrienationen liegt die Inflation ebenfalls unter dieser Marke, was die entsprechenden Notenbanken zum Anlass nehmen, die Geldpolitik weiter zu lockern. Doch wie im Fall von Japan dürfte auch dies kaum etwas bringen. Wenn wir in den letzten Jahren etwas lernen konnten, dann vielleicht, dass die Inflation schon lange kein monetäres Phänomen mehr ist.
Dass die Preise kaum steigen, hat meines Erachtens vor allem mit strukturellen Veränderungen zu tun. In den Industrienationen wird die Bevölkerung immer älter und zum Teil auch kleiner (wie z.B. in Japan). Die Wirtschaft und die Konsumenten sind gesättigt, die Konsumneigung entsprechend tiefer. Gleichzeitig hat die Globalisierung zu offenen Gütermärkten geführt, was die Preise drückt. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, dass die Preise – wenn überhaupt – nur leicht steigen. Daran kann auch die Geldpolitik nichts ändern. Das ist auch gut so, denn in Zeiten, in denen die Sparer praktisch keinen Zins mehr erhalten und irgendwann vielleicht sogar Strafzinsen zahlen müssen, braucht es nicht nnoch eine höhere Inflation, welche das Problem der kalten Enteignung nur noch weiter verschärft. Die Notenbanken wird dies aber leider nicht davon abhalten, wieder nachzulegen. Denn wenn sie nicht liefern, laufen die Finanzmärkte Sturm. Viel vernünftiger wäre es, das Inflationsziel von 2% zu überdenken, für das es keine wissenschaftliche Basis gibt und das zum Teil schon ein Vierteljahrhundert alt ist.
Die Welt hat sich in der Zwischenzeit verändert, nicht nur bei den Zinsen, sondern vor allem auch bei der Inflation. Solange die Notenbanken an der alten Welt hängen, werden sie weiter experimentieren, mit ungewissem Ausgang. Sind die 2% wirklich stabil, und nicht 0%, denn dann ändern sich die Preise nicht? Eben. Das Wort „stabil“ wird heute übrigens nicht nur von den Geldhütern etwas grosszügig ausgelegt. Junge Teenager liefern eine neue Auslegeform des Wortes „stabil“. Mein Jüngster war neulich in der Badi enorm beeindruckt, als ein junger Bursche einen Salto vom 5-Meter-Turm wagte. Sein Kommentar: Stabil!
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen