Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Amen
Wie Sie vielleicht bemerkt haben, habe ich mir zwei Wochen Urlaub gegönnt. Es zog mich dabei unter anderem auch mal wieder für ein paar Tage nach Konstanz, wo ich geboren bin und fast zwanzig Jahre lebte, bevor es mich in die Schweiz verschlug. Und wie das halt so ist, wenn man länger nicht mehr da war, begegnet man an seinem Geburtsort Bekanntem und Neuem. Der Wandel eines Ortes, der sich unter ständiger Beobachtung schleichend vollzieht, wirkt viel auffälliger und markanter, wenn man mal ein paar Jährchen nicht da war.
Ja, die Mücken waren dieses Jahr besonders zahlreich. Sie feiern dieses Jahr Hochkonjunktur, Hochwasser sei Dank. Der Einkaufstourismus hat ebenso wieder angezogen, die Rückeroberung der Konstanzer Altstadt durch die Eidgenossen ist im Gang, was die Ladenbesitzer freut, denn die haben Schweizer Kunden längst in ihren Businessplänen eingepreist. Der Wandel ist stetig trotz aller Unterbrechungen.
Konstanz war dereinst französische Besatzungszone. Bekanntlich teilten die siegreichen Alliierten das besiegte deutsche Reich nach dem Zweiten Weltkrieg in Zonen auf, welche von «Engländern» (UK), US-Amerikanern, Franzosen und Russen «verwaltet» wurden. Es entstanden damals drei Kasernen in Konstanz, welche die französische Besatzungsmacht errichtete, um ihre Soldaten unterzubringen. Französische Soldaten gehörten zum Konstanzer Stadtbild, im Bus auf der Strasse und – ja – mit Panzern etc. patrouillierten sie durch die Stadt. Als Kind empfand ich dies weder als demütigend noch als fremd, es war einfach so. Meine ältere Schwester hatte ein Techtelmechtel mit einem französischen Besatzungssoldaten, die Franzosen gehörten einfach dazu. Ihre einst errichteten Kasernen wurden nach deren Abzug verschiedenen Nutzungen zugeführt: sozialer Wohnungsbau, Studentenwohnungen oder nicht unwesentliche Bestandteile wurden Teil des neuen Stadtbildes mit einem ausgewogenen Nutzungsmix aus Entertainment wie Gastronomie oder Hotellerie plus Verwaltung und Handel. Mittlerweile scheint dieser Wandel vollzogen. Wie überall wechseln die Nutzungen und spiegeln so den Wandel auf der Mikroebene wider. Wo einst gearbeitet wurde, wird heute gewohnt oder «gechillt», wir kennen dies hierzulande in den urbanen Zentren, wo Industrie- oder Gewerbeflächen neuen Nutzungen zugeführt werden.
So weit so normal doch staunte ich ehrlicherweise nicht schlecht, als ich sah, dass, wo wir früher tanzten und später Ausstellungen besuchten, nun offenbar der Glaube Einzug gehalten hat. Die Rede ist von einer «Freikirche» und gemäss Aussagen meiner Verwandtschaft, sei die ganz gut besucht. Das Geschäft mit dem Glauben wird hier deutlich sichtbar. Jahrhundertelang prägte der Glaube das Dasein der Menschen. In unseren Breiten waren es namentlich christliche Kirchen, die längst nicht nur den Alltag prägten, sondern auch unsere gesamte Gesellschaft. In meiner Jugend wusste fast jedermann, wer zur Kirche ging und wer nicht. Und wehe, er war beim Gang zum Altar nicht adäquat gekleidet.
Doch dann war da dieser Skandal um die Banco Ambrosiano. Ohne ins Detail zu gehen, ging es damals in den frühen 80-ern des vergangenen Jahrhunderts um Geldwäsche, Unterschlagung und wohl auch um Beteiligung an einer Reihe schmutziger politischer Geschäfte. Da wurde klar, dass Religion auch ein Geschäftsmodell ist und der Vatikan eine Farce in Bezug auf Hüter des Glaubens. Überhaupt ist der Glaube ein, wenn nicht der Wertschöpfungsfaktor der Volkswirtschaften. Zwar sind es längst nicht mehr die traditionellen Staatskirchen, sondern alle möglichen Varianten von Heilsbringern, die um die Heilsuchenden werben, aber mit dem Glauben der Menschen lassen sich auch heute noch gute Geschäfte machen – Ablasshandel lässt grüssen. Wenn Freikirchen den traditionellen Kirchen den Rang ablaufen, liegt das wohl auch daran, dass sie längst nicht mehr zeitgemäss sind. Manche Freikirchen zelebrieren im wahrsten Sinn des Wortes und es herrscht dort Bombenstimmung statt nüchterner Eucharistiefeier. Party statt Kommunion.
In nackten Zahlen sieht das wie folgt aus: hierzulande leben über 2 Millionen Konfessionslose. Noch gibt es mehr Katholiken, aber längst nicht mehr so viele Evangelisch-Reformierte. Und natürlich sind andere Konfessionen im Vormarsch, namentlich Muslime mit mittlerweile fast 400’000 Bekennenden. Die traditionelle(n) Kirchen scheinen indes ausgedient zu haben. Nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung ist heute noch Mitglied christlicher Kirchen. Der Rest sucht sein Heil anderswo. Das heisst indes lange noch nicht, dass die traditionellen christliche Kirchen im Westen zum Auslaufmodell verkommen. Noch immer sind sie ein bedeutender Player in unserer Volkswirtschaft, trotz Entfremdung, Vertrauensverlust und Vetterliwirtschaft. Der Trend indes ist klar und zeigt klar abwärts. Das endgültige Amen ist nur noch eine Frage der Zeit, zumindest in unseren Breiten. Auch die Freikirchen verwalten – Party hin oder her – letztlich einen Niedergang, denn der «heutige» moderne Mensch lebt seinen Glauben, sofern er einen hat, immer mehr ohne oder abseits der Kirche. Damit schrumpft ein nicht unwesentlicher Teil unserer Volkswirtschaft zur Unbedeutsamkeit. Einst ein Stand, bald ein Nichts. (Raiffeisen/mc)
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen