Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Auch Dauer macht’s nicht mehr normal

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Auch Dauer macht’s nicht mehr normal
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Diese Woche kehrt zu einem guten Stück die lang ersehnte Normalität wieder ein. Aus Verboten wurden nun Gebote und man darf gespannt sein, wie sich die Menschen daran halten. Denn Social-Distancing ist nicht jedermanns Sache und ob da die Öffnung von Bars oder Fitnessstudios wirklich eine gute Idee ist, sei dahin gestellt. Wir wissen ja auch nicht zwingend, ob es eine gute Idee war, alles und alle runter zu fahren. Vielleicht hätten wir den Lockdown am Ende gar nicht gebraucht?

Die Diskussionen darüber sind längst lanciert, am Ende waren es wohl die Wirtschaft und das viele Geld, das die Staaten zur Krisendämpfung in die Hand nehmen mussten, gemeinsam mit einem spürbar werdenden Verdruss in der Bevölkerung, welche die Politik auf die Knie zwangen. Doch die Zweifel bleiben so oder so gross. Ob das nun der richtige Weg ist? Wir wissen es alle nicht. Man kann mit Schweden oder Dänemark argumentieren, die hätten weniger restriktiv durchgegriffen als wir, doch beruhen alle Daten zu den Coronafällen, so emsig sie eine Universität auch sammelt, auf unterschiedlichen Grundlagen (Anzahl Messungen, Definition des Personenkreises), was Vergleiche kaum möglich macht. Und ebenso alle daraus abgeleiteten Massnahmen.

Von daher kann eine solche Diskussion nicht objektiv geführt werden. Immerhin war die Befürwortung der Ausrufung des nationalen Notstandes mit 75% seinerzeit hoch und das politische Vertrauen in die Regierung beurteilten zwei Drittel der Bevölkerung als gut bis sehr gut. Nur schwand dieses mit der Zeit, mit der sich Milliardenverluste auftürmten, ein Drittel der Beschäftigten Kurzarbeit beantragte und sich wöchentlich Tausende arbeitslos meldeten. Das waren sie, die direkten Folgen des Lockdown und sie sind exakt messbar. Eine Rezession, die wohl stärker ausfällt, als diejenige in der Ölkrise.

Von Dilemma zu Dilemma
Es gibt aber auch indirekte Folgen, die uns weiter begleiten werden. Social Distancing schafft Unbehagen, wenn man es sehr strikt einhält. Das ist nicht der Alltag, den wir uns gewohnt sind. Im öffentlichen Verkehr geht es – trotz vorerst noch tiefer Auslastung – schon wieder so eng zu, so dass das mit der Distanz bald zur Farce zu werden droht. Und was beschäftigt uns dann? Wieso trägt der eine Maske, wieso trägt sie keine Maske? Kann der nicht weiter weg sitzen? Der bohrt doch tatsächlich in der Nase! Wir nehmen uns und alles um uns herum anders wahr als vor der Krise.

In den letzten Wochen wurden wir alle zu Gefährdern oder Gefährdeten. Die ständige Berichterstattung, die Bilder aus den italienischen Spitälern, die Särge dort, unsere eigenen Notfallstationen, was für eine Dramatik, dazu das sukzessive Auffahren von zusehend einschneidenden Massnahmen und Fallzahlen, Tag für Tag, ein kleiner Alptraum. Der spaltete unsere Gesellschaft, in ein Lager, das es jetzt wieder gewohnt lockerer nimmt und eines, das sich nach wie vor zurückhält – auch aus Furcht. Aus diesem Dilemma – so liess man mich wissen – finde man erst dann einen Weg, wenn endlich ein Impfstoff gefunden worden sei. Dann könnten sich wieder alle sicher fühlen und begegnen. Der mögliche Impfstoff bringt uns aber auch in ein (anderes) Dilemma. Müssen wir uns dann alle zwangsimpfen lassen? Das wird auch noch spannend, wie dazu die Empfehlungen lauten, wenn es mal so weit ist.

Distanz, nicht Enge beklemmt
Die soziale Distanz aber ist das grösste Dilemma. Es passt ja auch nicht zu Lebewesen, die zwar viel Platz haben, sich aber in urbanen Zentren auf engstem Raum zusammenballen. Und es ist unüberwindbar, wenn diese Live vor Ort im ausverkauften Stadion ein Fussballspiel schauen wollen oder ein Leichtathletikmeeting. Ein Besuch im Heimatmuseum meinetwegen, aber im Louvre? Wenn es stimmt, dass nur die soziale Distanz Corona einzudämmen vermag, dann wird es Grossveranstaltungen im laufenden Jahr keine mehr geben. Oder das Virus – wohl eher unwahrscheinlich – verflüchtigt sich. Jedenfalls bleibt vielen von uns auch nach der jetzt erfolgten Teilnormalisierung noch immer einiges entzogen. Das wiederum hat Konsequenzen auf unser Verhalten und unsere Konsumneigung. Dafür verlangen wir nach Kompensation, aber weder mehr Infosendungen, noch mehr Serien, noch mehr Computerspiele, noch mehr Langeweile, noch mehr Ruhe, noch mehr Rotwein werden uns vollends entschädigen. Und der Urlaub in der Schweiz, der uns nun erwartet, genau so wenig.

So schön unser Land auch sein mag, in dem wir uns nun wieder frei(er) bewegen dürfen. Vielleicht kann man aber auch bald wieder über die nationale Grenze hinweg, für die, die es wieder locker nehmen wollen. Doch auch im Ausland, das wir am liebsten immer ganz hautnah spüren, wird uns die Distanz beengen, und den erstrebten Urlaubsgenuss trüben. Gefährder und Gefährdete gibt es nämlich auch dort. Von daher ist es besser, sich erst mal zu Hause neu einzuleben. Das wird lang genug dauern.

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