Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Baut doch ein Paradies

Martin Neff

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: zvg)

Ich bin in der Stadt aufgewachsen, in Fussweite vom alten Stadtzentrum entfernt in einem wunderschönen Quartier, dem die Konstanzer den Namen „Paradies“ gaben. Es hat diesen Namen zweifellos verdient. Erstens liegt es prächtig, zum Seerhein, dem Teil des Rheins, der vom oberen Teil des Bodensees in den unteren Teil fliesst, sind es 200 Meter und zum See selbst knapp 1‘000 Meter. Zweitens finden sich im Paradies heute noch viele aneinandergereihte wunderschöne Gründerzeit- und Jugendstil-Ensembles. Drittens gibt es nur ganz wenige Bausünden, die das harmonische Gesamtbild stören. Die Altstadt selbst ist geschmückt von Patrizier- und Zunfthäusern, beherbergt das spätantike Römerkastell und frühmittelalterliche Kirchenbauten und zeichnet sich wie viele Altstädte anderswo durch eine vergleichsweise hohe bauliche Dichte aus.

Im Mittelalter und auch später lebten die Menschen zwangsweise eng aufeinander, denn die Stadt bot nur im Innern ihrer Mauern richtigen Schutz. Bauliche Dichte ist heute ja auch wieder gefragt. Heute ist es aber nicht die Angst vor Eindringlingen, sondern der Mangel an Bauland und die Angst vor dem Gespenst der Zersiedelung, die dem ungestümen Bauhunger und dem exorbitanten Landverbrauch der 1960er bis1990er Jahre ein Ende setzen. Was in diesen Jahren an Bausubstanz geschaffen wurde, ist heute alles andere als ansehnlich. Wenn sogenannten Zweckbauten der Zweck abhandenkommt, stehen sie ziemlich schräg in der Landschaft. Eine Umnutzung ist nicht immer möglich, da ihre Grundrisse und Architektur andere Nutzungen häufig verunmöglichen. Andererseits ist es auch heute mindestens so ein Kunststück, ein Gebäude abzureissen als ein neues zu bauen.

Wenn dann was Neues kommt, dann ist die Sprache der Architektur allerdings recht eintönig. Ich denke da an etliche zentral gelegene Industrieareale, die in den letzten Jahren aufwändig umgenutzt wurden. Genauso wie draussen auf der grünen Wiese experimentiert die Architektur auch das seit gut 20 Jahren mit neuen Grossformen, vornehmlich mit Quadern und Quadraten, die höher sind als bisher und einheitlicher denn je. Langweilig und eintönig, um nicht zu sagen trostlos, lässt diese Einfältigkeit die neuen Quartiere erscheinen.

Ganz schön dicht
Heute baut man leider keine Jugendstilhäuser mehr. Architektonische Verzierungen sind Luxus, den man sich nicht mehr leisten will und kann. Heute baut man dicht, modern und nachhaltig und offenbar verträgt es da keinen Schnickschnack mehr, der eigentlich nur dem menschlichen Auge dient. Funktional lautet das Adjektiv, das viele benutzen, die heute Einheitsbauten zuhauf hochziehen. Die Gebäude sind insgesamt wieder grösser, sie sind höher und stehen dichter beisammen als auch schon. Aber sie sehen trotzdem irgendwie alle gleich aus und vertragen sich schon rein deshalb nicht mit dem Alten und Bewährten.

Das ist vor allem in den Agglomerationen der Grossstädte augenfällig, wo sich unglaubliche Massen aneinanderreihen, die zwar vielen Menschen ein Dach über dem Kopf bieten, aber man schaut lieber aus den Häusern raus als auf die Häuser. Mit Blockrand und Flachdach, in Reih und Glied entstehen mit eher abweisenden als einladenden Fassaden die effizienten, raumsparenden Gebäude der modernen Zeit. Grosszügig müssen die Wohnungen sein, denn wir brauchen heute viel mehr Platz als Familien in meiner Kindheit, als im Schnitt noch mindestens vier Personen in einer Wohnung lebten.

Professionelle Projektierung, lausige Ergebnisse
Moderne Überbauungen entstehen heute erst nach langwierigen Planungsprozessen. Gestaltungspläne sind an der Tagesordnung, denn man möchte Ortsbilder schützen, die Landschaft oder die Aussicht. Oft kommen unzählige Stakeholder zusammen und setzen gemeinsam fest, wie eine grosse Überbauung einmal daher kommen soll. Ich durfte wiederholt an kooperativen Planungsveranstaltungen mit Landeigentümern, Behörden, Grundstücksnachbarn, Denkmalschützern, Verkehrsplanern, Soziologen und sogar Psychologen teilnehmen und war stets angetan von dem betont intellektuellen Niveau der Diskussionen rund um die zukünftigen Nutzungen. Nachhaltigkeit, interaktive soziodemographische Kohärenz durch hybride Nutzformen und ähnliche abstrakte Übungen wurden dabei auf das Reissbrett gezaubert, doch was am Ende jeweils raus kam, war ernüchternder Einheitsbrei. Ein Blick nach Zürich Nord, in die „Wohnungsfestungen“ in Zürich Affoltern oder ein Augenschein der Ortsgrenze zwischen Baar und Zug zeigt ein wenig, was ich meine.

Wo bitte ist die Abwechslung geblieben? Und werden all die hehren Ziele der Planung mit solchen Baukörpern erfüllt? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass soziale Interaktion an Orten gedeihen kann, wo die Anonymität der Fassaden schon abweisend wirkt. Da hilft es dann auch nichts, wenn man die neuen Schlafstädte durch Erdgeschossnutzungen aufzupeppen versucht. Quartierläden sind längst ein Auslaufmodell und in Neuüberbauungen, die Leute zum Schlafen aber weniger zum Wohnen anziehen, sind sie meist nur Eintagsfliegen. Eingekauft wird ohnehin im Stadtzentrum oder beim Grossverteiler am Ortsrand. Das sollte man bei der Planung berücksichtigen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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