Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Jede(r) kennt das „langsam, aber sicher“. Die meisten unter uns benutzen diese Redewendung, ohne sich jeweils gross darüber Gedanken zu machen. Dabei hat sie – wie so viele überlieferte Lebensweisheiten – weit mehr als einen kleinen Kern Wahrheit, wie uns beispielsweise der Strassenverkehr eindrücklich vor Augen führt.
Wer langsam fährt, baut weniger Unfälle, das ist ein Gesetz. Eine etwas neuere Redewendung aus dem Anglizismus birgt ähnlich viel Wahrheit hinter sich und scheint viel zeitgemässer: „quick and dirty“. Das ist kaum Lob für eine Lebensphilosophie, auch wenn heute Tempo angesagt ist. Man denke nur an das Internet, das uns nie schnell genug sein kann. Und Dreck ist schon gar nicht angesagt. Man will auch nicht gleich als Raser dastehen, wenn man mal aufs Gas drückt. Andererseits läuft man aber Gefahr, als Schleicher zu gelten, nur weil man sich langsam(er) bewegt – und noch viel schlimmer, als Aussenseiter dazustehen in der heutigen schnelllebigen Welt.
Doch was ist nun eigentlich besser? „Weder noch“ oder „alles zu seiner Zeit“ lautet die ehrliche Antwort. Es spricht nichts gegen langsam oder schnell, beide Adjektive sind schliesslich nicht wertend. Nur sollte man nicht ins Extrem verfallen, sprich weder rasen noch schleichen, denn sonst wird das Tempo tatsächlich auf die Waagschale gelegt. Natürlich gibt es auch eine gewisse Tempofähigkeit. Ein Formel 1-Pilot bewegt seinen Boliden in der Regel recht sicher auf einem Rennparcours. Er kann das erstens, und zweitens stimmen aber vor allem sämtliche Randbedingungen, denn es herrscht Rennbetrieb und der ist naturgemäss schnell. Der normale Verkehrsteilnehmer hat hier keine Chance mitzuhalten oder sein Temporausch endet abseits der Piste im Dreck. Geschwindigkeit ist beherrschbar, das hat uns die Evolution von Motoren gezeigt, aber nur, wenn auch die Sicherheitsvorkehrungen tempogerecht sind. Und wenn nicht plötzlich etwas über die Fahrbahn läuft wie der schwarze Schwan. Ein solches Ereignis, mit dem niemand rechnet und das daher vermeintlich ausgeschlossen werden kann, kann bei hoher Geschwindigkeit zu äusserst schwerwiegenden Schäden führen.
Wo ist die Zeit geblieben?
Heute macht es – zumindest in den hochindustrialisierten Ländern – den Anschein, Zeit sei eines der knappsten Güter überhaupt geworden. Erstaunlich, wenn man bedenkt, wieviel Zeit unsere Vorfahren nur allein schon dafür benötigten, täglich satt zu werden oder wie viele Stunden mehr noch unsere Grosseltern wöchentlich gearbeitet haben als wir heute. Wo nur ist die gewonnene Zeit geblieben? Im Grunde wissen wir es, sie dient unserem Vergnügen, unseren Hobbies und der Befriedigung von Bedürfnissen, von denen unsere Vorfahren nicht einmal die Spur einer Ahnung hatten. Fakt ist, so viel Zeit vor dem Spiegel zu verbringen wie wir heute, hatte die Menschheit noch nie in ihrer ganzen Geschichte. Und doch ist das Wort Stress, das so eng mit dem Zeitbegriff im Sinne eines Mangels verbunden ist, in aller Munde.
Schnelldenker Finanzakteure
Dass wir uns heute manchmal gehetzt fühlen, hat viel mit der Angst zu tun, etwas zu verpassen. Fristen die ablaufen, Aktionen die nur heute gelten, Mails und SMS abarbeiten und dann noch schnell, was auch immer erledigen und alles möglichst gleichzeitig, kann auf Dauer aber nicht gut gehen. So lange es sich um Routinen handelt, ist dies unproblematisch, da kann man gut aufs Tempo drücken. Das hat die Industrie vorgemacht mit ihrer Massenproduktion. Kritisch wird es dann, wenn auch die echten oder vermeintlich komplexen Systeme dem Zeitdruck unterliegen und aufwendige Arbeiten im Schnellverfahren durchgezogen werden. Genau dies ist leider am Finanzmarkt gang und gäbe.
Gestern war wieder so ein Tag, der dies perfekt belegt. Am frühen Morgen tendierten die Futures der europäischen Aktienmärkte stark negativ. Im Sekundenrhythmus gingen derweil Meldungen über die möglichen Gründe dafür über den Ticker, in einem Tempo, das selbst den oberflächlichsten Leser überfordert. Zum Glück muss man fast sagen, denn so bleibt einem auch etlicher Mist vorenthalten. Denn offensichtlich ist vielen Spielern an den Finanzmärkten nicht daran gelegen, treffliche und wohlüberlegte Statements (besser wären Analysen) zu platzieren, zumal auch die Medien daran nicht immer interessiert scheinen. Alle wollen lieber sofort eine Erklärung für einen Vorfall, sei sie auch noch so aus der Luft gegriffen als im Ungewissen zu harren. Mit der Masse der Erklärungen sinkt aber nicht nur deren Gehalt, sondern es steigt auch deren Halbwertszeit. Gestern gab es viele schnelle Erklärungen, die von weiteren schnelleren Erklärungen im Sekundentakt relativiert wurden. So musste sich jeder sein eigenes Bild machen, ob es Zinsängste, Ölpreis, Konjunkturdaten oder was auch immer waren, die den Kursrutsch verursachten. Nachhallen wird kaum eine dieser Begründungen, denn heute sind es schon wieder andere. Dennoch sind solche kursrelevant – wenn manchmal auch nur für Minuten.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen