Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Cold turkey

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Cold turkey
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Black Monday in New York am 7. Februar 2018. In Punkten gemessen hat der amerikanische Börsenleitindex Dow Jones noch nie in seiner Geschichte an einem Tag so viel verloren wie am Montag vor zwei Wochen. Auch prozentual betrachtet war der Einbruch um 4.6% ein höchst ungewöhnliches Ereignis. Und natürlich zog die amerikanische Börse den Rest der Welt wieder einmal voll mit nach unten. Aus heiterem Himmel herrschte plötzlich Panik und die Anleger trennten sich in Scharen von Aktien. Das kleine Beben hallt noch immer nach.

Vergessen ist nun der fulminante Start der Börsen ins neue Jahr. Die Angst ist zurück an den Finanzmärkten und das trotz brummender Konjunktur und durchaus intakter Perspektiven der Weltwirtschaft. Es ist vornehmlich die Angst der Märkte vor dem Entzug, dem Entzug des billigen Geldes. Diese Angst hat sich am langen Ende der Zinskurve bereits materialisiert. Seit September 2017 sind die Zinsen für zehnjährige US-Staatsanleihen deutlich gestiegen und ab Jahresbeginn 2018 hat sich dieser Anstieg gar noch beschleunigt. Aktuell liegen sie bei 2.9%. Aber die Reaktion der Finanzmarktteilnehmer darauf ist wieder einmal völlig überrissen ausgefallen.

Schon einmal zwischen Ende 2013 und Anfang 2014 ist Ähnliches geschehen und die Zinsen stiegen sogar über 3%. Allein die verbale Ankündigung des damaligen Notenbankchefs Ben Bernanke, das Quantitative Easing gegen Ende 2014 auslaufen zu lassen, hatte damals genügt, die Zinsen hochzutreiben. Die Aktienmärkte hatte das aber nicht weiter beeindruckt und nicht so wie jetzt einen kleinen Crash provoziert.

Wenn man einem Heroinjunkie über Nacht sein Gift entzieht, dann erleidet der einen kalten Entzug (cold turkey). Kalt wird der Entzug deshalb genannt, weil man keine anderen Mittel verabreicht, welche die Entzugserscheinungen einigermassen erträglich machen. Das ist die harte Tour, wenn man so will und vor der fürchten sich die Märkte am meisten. Dass die Langfristzinsen wieder davon ziehen interpretieren sie als Ankündigung des Dealers – so wie die seinerzeitige Ben Bernankes -, dass es demnächst keinen Stoff mehr gibt. Da dreht der eine oder andere Junkie natürlich schon mal durch.

Der kalte Entzug mag hart sein, aber die körperlichen Entzugserscheinungen lassen in der Regel schnell nach. Drei vier Tage und sie sind passé. Der Rest spielt sich dann im Kopf ab. Aber das verkraften die hypernervösen Finanzmärkte nicht mehr. Zu lange sind sie nun schon auf hartem Gift. Drum wird der Entzug durch die Dealer homöopathisch dosiert.

Die Zentralbanker versuchen seit Monaten, die Märkte darauf einzuschwören, dass die Politik des billigen Geldes zu Ende geht. Doch richtig glauben will das kein Marktteilnehmer, denn so lange die Geldschwemme tatsächlich anhält, besteht auch kein Grund, sich um den Entzug zu sorgen. So übertrieben es sein mag, so ticken die Märkte inzwischen, nachdem sie nun zehn Jahre lang quasi gratis mit Stoff versorgt wurden.

Bitte nicht schon wieder
Es wäre nicht das erste Mal, dass die Finanzmärkte zu hohe Erwartungen schüren und dann völlig übertrieben reagieren, wenn sich die hochgesteckten Ziele als unrealistisch herausstellen. Dotcom oder Lehman-Debakel liefern hier eindrücklichen Anschauungsunterricht. Letztlich brachten die Finanzmärkte mit ihrer Hysterie damals auch die Konjunktur ins Wanken, obwohl sich die reale Wirtschaft im Gegensatz zu den überhitzten Finanzmärkten nicht auf Abwegen befand, sondern recht stabil unterwegs war. Auch aktuell steht die reale Weltwirtschaft auf stabilem Fundament, wenn man die beunruhigende Verschuldungssituation vieler Staaten einmal ausklammert. Der Konjunkturaufschwung läuft ziemlich synchron, vor allem Europa hat gut aufgeholt, selbst geopolitische Unwägbarkeiten sind kaum ein Thema, genau so wenig wie das Nachwahltheater in Deutschland oder die anstehenden Italienwahlen, die wenig Stabilität versprechen.

Nur kann sich das leider rasch ändern, wie uns anfangs Monat bewusst wurde. Vor dieser Unberechenbarkeit der Märkte muss man leider auf der Hut sein. Urplötzlich landet dann alles auf der Goldwaage, was die Finanzgemeinde zuvor durch die rosarote Brille sah oder vollständig ignorierte. Dazu gehört das süsse Gift der Geldhüter, der unberechenbare und bisher überbevorschusste Donald Trump sowie die Ausblendung der aus dem Ruder laufenden Schulden, um ein paar zu nennen. Die Fahrt wird leider holpriger an den Finanzmärkten, hoffentlich schlägt das der Realwirtschaft nicht auf den Magen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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