Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Covid – Was wir von Taiwan lernen können?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Covid – Was wir von Taiwan lernen können?
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Ich habe grad mal wieder meine SwissCovid App gelöscht und neu heruntergeladen. Nicht das erste Mal in diesem Jahr und ich weiss gar nicht mehr, wie oft ich das letztes Jahr auch schon getan habe. Aktuell hiess es: Fehler- Ein unerwarteter Fehler ist aufgetreten. IUNXN-999.

Oder mit rotem Ausrufezeichen: keine sichere Verbindung zum Server möglich. Bitte prüfen oder deaktivieren Sie blalaba …». INET-999. Alles klar? Nach jedem Löschvorgang und erneutem Download tut’s die App dann wieder für ein Weilchen ohne kryptische Meldung, die leider nur versteht, wer kein einfacher User ist wie ich. Vielleicht bin ich ja wirklich zu blöd, aber solche Applikationen müssen einfach idiotensicher sein, fertig. Vielleicht liegt es ja auch ein bisschen daran, dass die Nutzung so dünn ausfällt, aber ehrlich gesagt weiss ich das nicht.

Wenn hingegen stimmt, was die App mir anzeigt, nutzen sie derzeit 1.82 Millionen Menschen in der Schweiz. Wenn man bedenkt, dass 94 % der Haushalte mit einem Smartphone ausgerüstet sind und in einem Jahr 3.1 Millionen Smartphones über den Tresen gehen, dann erscheinen die 1.82 Millionen gelinde gesagt schon recht bescheiden. Ich nehme auch nicht wahr, dass die App sehr aktiv umworben wird. Zum Beispiel in der besten Sendezeit vor den Hauptnachrichten im Staatsfernsehen. Dort höre ich nur jeden Tag «Helvetia». Plakatwerbung oder sonstige Reklame? Ebenso Fehlanzeige. Da muss man ja fast den Eindruck gewinnen, dass der Support für die App und die Überzeugung von der App nicht gerade berauschend ausfallen. Auch sonst macht unser Land, in dem doch alle von Digitalisierung sprechen keine tolle Falle – Testergebnisse per Fax lassen grüssen.

Szenenwechsel
In Taiwan gab es nie einen Lockdown. Grenzkontrollen, Maskentragen und Quarantäne, so einfach geht es offenbar, einem Virus den Garaus zu machen. Und zuvorderst stand in Taiwan proaktiv agieren, statt wie hierzulande warten, beobachten, diskutieren, aufwendig einen Konsens suchen und dann halbherzig reagieren. In einem interessanten Interview mit der Digitalministerin (!) Audrey Tang sind mir zwei bemerkenswerte Äusserungen besonders ins Auge gestochen. Auf die Frage, ob ein Leben mit dem Virus möglich sei, in dem man sich an Inzidenzen von 50 oder mehr gewöhne oder aber das Virus auslöschen könne bzw. müsse, antwortete sie äusserst bestimmt. Natürlich müsse man es auslöschen, denn sonst mutiere es und werde nur noch tödlicher. Das sei von vornherein die Prämisse der Politik Taiwans gewesen. Heute geht das Leben in Taiwan wieder seinen normalen Gang, normaler Schulunterricht, keine Maskenpflicht.

Das ging aber auch nur, weil das Land punkto Digitalisierung Europa einen grossen Schritt voraus ist. Wer während der Quarantäne das Haus verliess, erhielt eine SMS mit einer Erinnerung, wieder heimzukehren und gleichzeitig ging eine SMS an lokale Beamte, die dann überprüften, ob die Person wieder zu Hause ist. War sie es nicht – und erst dann – wurde die Polizei benachrichtigt. Nach der strikten Quarantäne gab es dafür umgerechnet ca. 30 Euro pro Tag, als Dank für die Kooperation. Gelernt hatte Taiwan aus der Sars-Epidemie 2002/2003, als die Kommunikation im Land – so Tang – chaotisch gewesen sei und, man höre, verschiedene Regierungsebenen widersprüchliche Informationen streuten, was die Bürger verunsicherte.

Zurück in die Schweiz
Wir hier in der Schweiz befinden uns derzeit auf dem Stand, den Taiwan etwa 2004 erreicht hatte. Nein viel schlimmer, denn selbst auf der höchsten Regierungsebene gibt es Widersprüche zuhauf. Unser Finanzminister etwa, bisher der absolute Gipfel, ist gemäss eigenen Aussagen zäh genug und benötigt deshalb keine zweite Impfung. Kantone und Bund spielen seit einem Jahr Pingpong und schieben sich gegenseitig abwechselnd Schuld und Verantwortung zu. Und all das immer mit fruchtbaren Gesprächen in bestem eidgenössischen Einvernehmen, Hauptsache Konsens auch wenn nur fauler Kompromiss. Das Resultat ist Lockern und Verschärfen, ein teures Hin und Her.

Und da wir ja immer gern ins (nahe) Ausland schielen, bevor wir selbst zu denken beginnen, trösten wir uns damit, dass die Deutschen, Italiener und Franzosen genauso ohnmächtig vorgehen. Dass ausgerechnet Diskussionen über Öffnungen von Terrassen in Skigebieten das Fass zum Überlaufen brachten, ist symptomatisch für eine Verlagerung auf Nebenkriegsschauplätze, wenn man das Wesentliche nicht kann. Die Stimmung drohte jüngst gar zu kippen, denn plötzlich stritten Exekutive und Legislative ganz offen und für Schweizer Verhältnisse extrem scharf. Der Bund blieb zwar hart, aber das Volk hat den Glauben, dass dieses Land aus dem Hü und Hott überhaupt mal wieder rauskommt, allmählich verloren. Auch weil hier jeder inzwischen etwas anderes glaubt. Es herrscht sozusagen Ruhe vor dem grossen Sturm.

Testen, vor allem aber Impfen, sind die letzten Hoffnungsschimmer, welche jetzt noch bleiben. Immerhin meint Audrey Tang, dass sie von den westlichen Demokratien trotz deren zögerlicher Politik, auch etwas gelernt habe, nämlich dass sie gut darin sind, Impfstoffe zu entwickeln. Auch das Pharmaland Schweiz? Und können wir den Impfstoff wenigstens schnell verabreichen? Nach Masken-Pleite und Testversagen gilt es nun ernst beim Impfen. Vergeigt das jetzt nicht auch noch, möchte ich dazu nur sagen. Sonst bleibt nur noch der Weg Taiwans. Kurz und schmerzhaft, statt lang und qualvoll. Das ist ökonomisch effizienter und nicht annähernd so zermürbend wie die halben Sachen der letzten 12 Monate. Die notwendigen Apps – von wegen Digitalisierung – liessen sich sicherlich in Taiwan bestellen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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