St. Gallen – Vor etwas mehr als zwei Jahren, am 19. Parteitag der Kommunistischen Partei (KP) Chinas Ende Oktober 2017 begann die Ära Xi – wenn man so will. Damals kürten die 2300 Delegierten des Parteitags Xi Jinping zum allmächtigen Herrscher im Reich der Mitte. Die KP nahm ihn gar als politischen Denker in ihre Parteistatuten auf. Das schafften bisher erst zwei Führer der KP vor ihm, namentlich Mao Tse-tung und Deng Xiaoping. Zu Lebzeiten wurde diese Ehrung bislang lediglich Mao Tse-tung zu teil und eben Xi Jinping.
Zwar hatte sich Xi nicht unbedingt einen Namen als politischer Vordenker gemacht, aber er hat die Partei ausgemistet und der grassierenden Korruption Grenzen gesetzt. Gleichzeitig hat er aber die Meinungsfreiheit eingeschränkt und geht rigoros gegen Andersdenkende vor, auch heute noch. Seine Parole des chinesischen Traums, gemeint damit ist der Wiederaufstieg Chinas an die Spitze der Nationen, dominiert seine politische Agenda und die Partei traut ihm wohl zu, dass er China tatsächlich ins Rampenlicht der Weltbühne zurückbefördern kann. Dafür scheint ihm fast jedes Mittel recht.
Zunehmend Gegenwind
Aktuell sieht sich Xi allerdings etlichen Winden ausgesetzt. Der Handelsstreit mit den USA schadet der chinesischen Wirtschaft. Die wächst ohnehin längst nicht mehr zweistellig, aktuell zwar immer noch um gut 6% jährlich, aber jedes Jahr wirds etwas weniger und bald schon wird sich die fünf vor dem Komma der Wachstumsrate etablieren. Vielleicht schon im kommenden Jahr, je nachdem ob der US-Präsident am 15. Dezember, wie von ihm angekündigt, die Zölle auf chinesische Waren massiv ausweitet. Das tiefere Wachstum der chinesischen Wirtschaftsleitung ist an sich nicht weiter tragisch, denn auch China hat Fortschritte beim Wohlstand erzielt und sieht sich ersten mitunter demografisch bedingten Sättigungstendenzen ausgesetzt – so wie jede reifende Volkswirtschaft.
Gleichzeitig laufen aber auch die Schulden aus dem Ruder. Sie steigen schneller als der Wohlstand. Unternehmen, Haushalte, Staat und Finanzsektor zusammen bringen es auf eine Schuldenquote von fast 300% des Bruttoinlandprodukts. Seit der Finanzkrise ist die Schuldenquote förmlich aus dem Ruder gelaufen. Bei den Schulden hat China schon zu den hochentwickelten Volkswirtschaften aufgeschlossen. Xi muss es sich offensichtlich einiges kosten lassen, das Volk der Republik bei Laune zu halten. Neu dazu kommt, dass er sein Land nicht mehr so dicht halten kann, wie er dies gerne hätte. Mitte November wurden zuerst der New York Times vertrauliche Dokumente zugespielt und eine Woche später dem Internationalen Konsortium Investigativer Journalisten ebensolche übermittelt – wie es heisst von einem höheren Mitglied der chinesischen Politkaste. Es ging dabei um die Behandlung der Uiguren, einer vorwiegend muslimischen Bevölkerungsgruppe in der Provinz Xinjiang, die offenbar massenweise in Umerziehungslagern interniert wurden. Und dann ist da auch noch Hongkong mit seinen rebellischen Studenten, die der Welt die blinde Chinaeuphorie austrieben und in Erinnerung riefen, mit was für einem Land man es bei China zu tun hat.
Showdown in Hongkong
Längst sind es nicht nur Studenten, die gegen Peking rebellieren. Die Basis ist grösser, denn der Protest entlud sich auch an den Wahlurnen in Form der Abwahl fast aller pekingtreuen Bezirksräte – mit einer einzigen Ausnahme. Mittlerweile dürfte es um mehr gehen als das geplante Auslieferungsgesetz, an dem die Chefin der chinesischen Sonderverwaltungszone Carrie Lam festhält und das die Massenproteste eigentlich entzündete. Die Sturheit Lams dürfte eher von Festlandchina auferlegt denn selbstgewählt sein, doch reduziert das den Sprengstoff dieses Konfliktes kaum. Denn sensibilisiert durch die Indiskretion eines politischen Exponenten im Falle der Uiguren hat die internationale Staatengemeinschaft China nun wieder wegen menschenrechtlicher Fragestellungen auf dem Radar und Hongkong ist mitten auf dem Schirm.
Was Xi in den kommenden Wochen mit und in Hongkong anstellt, wird entscheidend sein für das Verhältnis Chinas zum Rest der Welt. Und er steckt da in einem Dilemma. Zu viel Autorität schadet ihm international, zu wenig national. Und nichts tun ist auch keine Variante. Am Sonntag fand erneut eine massive Demonstration statt. Lokale Medien berichteten von 800‘000 Protestierenden, die Polizei bezifferte die Teilnehmerzahl auf unter 200‘000. Im Vorfeld kam es zu Razzien bei Anhängern der Hongkonger Demokratiebewegung, der Siegerin der erwähnten Kommunalwahlen.
Die Chinaeuphorie wirkte jahrzehntelang wie Scheuklappen. Vor lauter Lobhudeleien auf die Superlativen Chinas und sein wirtschaftliches Potenzial gerieten Menschenrechtsfragen völlig in Vergessenheit. Damit ist – wie schon gesagt – seit Hongkong Schluss.
Ein totalitärer Staat
Im März 2017 stolperte ich über eine – sagen wir – etwas spezielle Nachricht. Da am Pekinger Himmelstempel in öffentlichen Toiletten immer wieder Klopapier geklaut wurde, installierte die Regierung dort Gesichtsscanner. Nur wer sich einige Sekunden vor einer hochauflösenden Kamera positioniert, erhält knapp einen Meter – je nach Quelle 60 bis 70 cm – Toilettenpapier aus einem Automaten. Zwischen den „Gängen“ müssen mindestens neun Minuten liegen, sonst rückt die Maschine kein Papier mehr raus. Das beendete den Papierdiebstahl, ist aber Symptom- und nicht Ursachenbekämpfung. Die Lösungsmethode hat zudem System, gestreng dem “big brother is watching you”. Bei den Dieben dürfte es sich vornehmlich um ältere Bürger handeln und sicher nicht um Wohlhabende.
Obwohl sich zwischen 1998 und 2018 das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen Chinas beinahe verachtfacht hat, ist Armut noch immer allgegenwärtig. Es gibt fast 300 Millionen Wanderarbeiter in China, mehr als ein Drittel der Erwerbsbevölkerung, welche die Regierung am liebsten aus den Städten treiben möchte und dies zum Teil auch tut – ohne grosse Skrupel. Nicht mal ein Fünftel der Wanderarbeiter hat eine Krankenversicherung, noch weniger irgendwelche Rentenansprüche. Bürger zweiter Klasse, wenn überhaupt. Der Überwachungsstaat macht es möglich, diese zu kontrollieren und aus dem Weg zu räumen, so wie die Uiguren.
China ist eine Diktatur, ein totalitärer Staat, der seine Tentakel weltweit auslegt. In Afrika, entlang der Seidenstrasse und in den entlegensten Zipfeln der Welt. Wir erstarrten viel zu lange ehrfürchtig vor der Grösse und Dynamik Chinas und waren begeistert von der östlichen Moderne des Landes. Auch heute noch schwärmen viele meiner Kollegen von China. Für sie ist China noch immer ein „strong buy“, dort locken überdurchschnittliche Gewinne. Mal sehen wie lange noch. Die Antwort kann nur einer geben, Xi, und zwar in Hongkong. Die Welt schaut wenigstens mal genauer hin. Nur die Finanzmärkte nicht.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen