Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Dekaden der Unberechenbarkeit
Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft im Jahre 2001, mittlerweile 76 Jahre alt, lehrt noch immer Ökonomie – aktuell an der Columbia University in New York. Ich bin zwar kein Fan des Neo-Keynesianismus, zu welchem Lager Stiglitz zählt, aber originell ist Stiglitz allemal. In einem Interview antwortete er auf die Frage, ob die USA nicht das einzige Land mit radikalen Staatschefs sei, wie folgt: „Nein, Boris Johnson in Grossbritannien ist der Champion der Unberechenbarkeit. Wir sind in einer Ära, in der die Wähler gern jenen die Stimme geben, die eigenartig sind. Das ist nicht gut für die wirtschaftliche Stabilität.“ Ich bin diesbezüglich vollends seiner Meinung. Ich kann mir sogar vorstellen, dass dies erst der Anfang einer Entwicklung ist, die uns noch einige Zeit beschäftigen wird. Drum ist hier im Titel von Dekaden der Unberechenbarkeit die Rede. Eine erste, solche Dekade liegt ja bereits hinter uns.
Die Politwelt ist in den letzten zehn Jahren zweifellos bunter und unberechenbarer geworden. Aus ist es mit den Mitte-Links oder Mitte-Rechtsbündnissen, die jahrzehntelang das Sagen hatten in Europa. Sie sind entweder flügellahm oder abgewählt worden. Unzählige, heute mit tonangebende Parteien gab es vor der Finanzkrise noch gar nicht. Einige von ihnen erzielen mittlerweile zweistellige Wählerprozentanteile. AFD, Movimento 5 Stelle oder La République en Marche sind die wohl mitbekanntesten darunter. Darüber hinaus haben die etablierten politischen Kräfte überall an Rückhalt verloren und es gibt nur noch ganz wenige hoch industrialisierte Länder, in denen Regierungen auf einigermassen stabile Mehrheiten in ihren nationalen Parlamenten bauen können. Mainstream war gestern. Wie es so weit kommen konnte?
Auslöser Finanzkrise
Es sind bekanntlich meist mehrere Gründe, die erst wenn sie zusammengenommen werden, grosse Wirkung entfalten. Dass vor der Finanzkrise schon Einiges im Argen lag, das dann mit dem Ausbruch der Krise erst sichtbar wurde, ist heute wohl unumstritten und ein Grund. Stiglitz meint in diesem Zusammenhang, dass damals das Vertrauen in freie Marktkräfte verloren ging, vor allem bei Normalverdienern und sozial schwächer Gestellten, würde ich ergänzen. Ein weiterer Grund ist die aus dem Ruder gelaufene Schuldenpolitik, die durch eine ultraexpansive Geldpolitik begünstigt wurde. Mit Donald Trump wurde in den USA zudem ein Präsident gewählt, der seine Unberechenbarkeit eben erst wieder unter Beweis stellte. Und er wird mit Sicherheit auch in Zukunft für Furore sorgen.
Der Konflikt mit China, längst ist dieser nicht mehr nur ein Handelsstreit, ist bei ihm zuoberst auf der Agenda. China selbst zeigt indes in Hongkong sein wahres Gesicht und hat mit der jüngsten Abwertung seiner Währung Donald Trump so richtig sauer gemacht. Damit wird eine schlichte Beilegung des Konflikts immer unwahrscheinlicher. Für Trump geht es letztlich auch um seine Wiederwahl.
Radikale Ideen in England
In England aber hat in der Gestalt von Boris Johnson die grösste, derzeitige Unberechenbarkeit Einzug gehalten und damit auch in Schottland oder Nordirland, wo Johnson ganz und gar nicht beliebt ist. Grossbritannien ist zwar genau so wenig wie die EU auf einen harten Brexit, also einen Ausstieg der Briten aus der EU ohne Abkommen, vorbereitet. Doch scheint dies Boris Johnson momentan nicht gross zu kümmern. Er dürfte sich vielleicht sogar bewusst zu sein, dass sein Land wohl sehr viel stärker in Mitleidenschaft gezogen würde als der EU-Koloss, wenn es ohne Abkommen mit der EU ausschert. Zudem droht er das Land noch mehr zu spalten. Schliesslich haucht er den Unabhängigkeitsträumen mancher Schotten frischen Geist ein und selbst die IRA ist ausgerechnet „ante-Brexit“ wieder auf der Bildfläche erschienen. Die Finanzmärkte haben das britische Pfund schon mal dahin geschickt, wo sie auch Grossbritanniens Zukunft befürchten, nämlich in den Keller.
Der Ökonom Patrick Minford, der so etwas wie der ökonomische Vordenker des Brexit ist, sieht das im Grunde auch so. Er wäre aber bereit, „die ganze Industrie abzuwickeln“, meint sogar, da wäre in Grossbritanniens Interesse, wie damals, als die Stahloder Kohleindustrie abgewickelt wurden. Dass das ein Unmenge Arbeitsplätze vernichtet, ist ihm bewusst, er glaubt aber, dass der „No Deal“ das beste Szenario für das noch vereinte Königreich ist. Grossbritannien müsste gemäss Minford nur genug neue Freihandelsabkommen abschliessen, u.a. mit den USA, so dass letztlich die Vorteile des Hard Brexit überwögen. Der schlaue Fuchs kalkuliert dabei auch mit ein, dass im Hard Brexit auch der EU keine Austrittsrechnung von 39 Milliarden Pfund zu begleichen wäre und mit dem Wegfall der ganzen EU-Regulierung und der Sperre für EU-Asylanten erhebliche finanzielle Vorteile winken. Das alles mag auf längere Sicht vielleicht aufgehen, aber nach dem 31. Oktober 2019 dürfte es auf der Insel erst mal richtig hektisch werden.
Finanzmärkte in Habachtstellung
Bis dahin sind es nicht mal mehr neunzig Tage. Die Finanzmärkte haben sich mit dem Thema bis jetzt erst am Rande und zwar ausschliesslich an der Währungsfront beschäftigt. Ende letzter Woche schürte Donald Trump aber erneut das Handelsfeuer und die Märkte reagierten dieses Mal äusserst nervös. Die Lage ist schon fragil genug, wenn die unberechenbaren Angelsachen für zunehmende Unruhe sorgen. Sollte jetzt auch noch die Konjunktur wegkippen, was nicht mehr ausgeschlossen werden kann, denn seit dem Frühling zeigen die wichtigsten Vorlaufindikatoren nach unten, dürfte die Volatilität wieder steter Wegbegleiter an den Finanzmärkten sein. Die Wetterprognose für den Spätsommer steht schon heute: erhöhte Turbulenzen wahrscheinlich, Zinstemperaturen in der Schweiz im tiefen Minusbereich.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen