Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Der heisse Herbst?
Nein das Wetter ist es nicht, was diesen Herbst für uns alle unvergesslich werden lässt. Dafür sorgen andere Ereignisse. Starten wir mit den vermeintlich Positiven. Am Montag gab das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) eine neue Wachstumsprognose für das Jahr 2020 ab. Der Titel der dazugehörenden Medienmitteilung bringt es auf den Punkt, der Wirtschaftseinbruch werde 2020 nicht so drastisch ausfallen wie ursprünglich befürchtet.
Für das Gesamtjahr 2020 erwartet das Staatssekretariat einen Rückgang des Bruttoinlandproduktsvon 3,8 %. Im Juni war das SECO noch von einem Minus von 6,2 % ausgegangen. Auch den Arbeitsmarkt beurteilt der Bund nicht mehr ganz so düster. Für 2021 veranschlagt er das Wirtschaftswachstum neu auf 3,8 % (Prognose von Juni: 4,9 %).
Das etwas tiefere Wachstum im Vergleich zur Juniprognose erklärt sich mit dem weniger markanten Einbruch 2020, ein reiner Basiseffekt also und nicht etwa eine völlig neue Verlaufsprognose. Mit diesen Vorgaben wird die Schweizer Wirtschaft frühestens Ende 2021 wieder das Niveau von vor dem Absturz erreichen.
Kaum war die neue Prognose des Bundes draussen, kamen auch schon die ersten Anfragen, ob wir nun auch Anpassungen unserer Wachstumsprognose vornähmen. Das ist sozusagen Tradition. Ein Institut löst jeweils einen Prognoserevisionsreigen aus. Gemäss einfacher Logik der Medien, dass es für die Revision sicherlich einen Grund gibt, werden die anderen nun angefragt, ob sie nicht auch Anpassungsbedarf bei ihren Prognosen sehen. Man möchte sich als Prognostiker ungern zu weit hinauslehnen und orientiert sich daher gern auch am sogenannten Konsensus, der alle verfügbaren Prognosen erfasst und aus ihnen Durchschnittswerte errechnet. Wer sich zu weit von diesem Konsens entfernt, gerät eher in Erklärungsnot. Wer nah bei ihm liegt, kann sich dafür auf ihn berufen, es heisst dann nur: „Die anderen Institute sehen das ja sehr ähnlich“; oder: „Wir liegen nahe am Konsensus.“ Sei’s drum, wir belassen unsere Prognose für 2020 trotzdem bei minus 5% und sehen auch keinen Bedarf Anpassungen für das Jahr 2021 (unverändert + 4.3%) vorzunehmen. Denn dass das, was hinter uns liegt, nicht so schlimm kam, wie ursprünglich befürchtet, muss noch lange nicht heissen, dass wir durchs Ärgste durch sind.
Bundesrat beunruhigt
Genau genommen handelt es sich bei der Prognoserevision für 2020 um rein rechnerische Anpassungen. Am grundsätzlichen Konjunkturbild hat sich überhaupt nichts geändert. Die Schweiz hat eine äusserst schwere Rezession erlebt und die Wirtschaft korrigiert aktuell den übertriebenen Absturz. Die Unsicherheiten bleiben aber unkalkulierbar hoch und es besteht auch ein Risiko nach unten. Das eben erst abgeschlossene dritte Quartal ist wohl besser verlaufen als erste Schätzungen suggerierten und dies hat den Bund wahrscheinlich dazu bewogen, seine Prognose zu revidieren. Doch das ist eine gewagte Wette, umso mehr vor dem Hintergrund wieder drastisch steigender Fallzahlen. Es dürfte nicht mehr lange dauern, dass es wieder zu grösseren Beeinträchtigungen des Wirtschaftsgeschehens kommt.
Das war in den letzten beiden Wochen schon teilweise der Fall und obwohl die Schweiz, was den Stand der Anti-Corona-Massnahmen betrifft, einem Flickenteppich gleicht, ist zumindest die Schraube überall angezogen worden. Die umstrittene Maskenpflicht in Läden dürfte schweizweit kaum mehr zu vermeiden sein, auch wenn sich der eine oder andere Kanton noch davor drückt. Und wer am Montag Bundesrat Berset genau zuhörte, vor allem auch seine Gestik las, muss unweigerlich zum Schluss kommen, dass der Bundesrat beunruhigter ist als auch schon. Die Lockerheit des Sommers wich einer neuen, herbstlichen Anspannung.
Natürlich sind die Todesfälle enorm tief und auch die Spitaleintritte, weshalb viele das Virus weniger ernst nehmen als im Frühjahr. Aber bezüglich Neuinfektionen bewegen wir uns seit letztem Wochenende auf einem traurigen Rekordniveau, dem höchstens
Durchseuchungsfetischisten noch etwas Positives abgewinnen können.
Von Prinzipien und Regeln
Drei Dinge, um nicht zu sagen Prinzipien sind jetzt elementar, um nicht doch noch von der viel zitierten zweiten Welle erschlagen zu werden. Zuvorderst braucht es – wieder oder erst richtig? – (1) Disziplin. Nicht nur am Wochenende, sondern die ganzen letzten Wochen konnte man sich ein Bild darüber machen, wie’s um die steht. Die Masken werden von nicht Wenigen beim Verlassen des Zuges förmlich vom Gesicht gerissen, obwohl auf dem Bahnperron noch mehr Gedränge herrscht als im Zug selbst. Manche tragen die Masken nicht über der Nase, andere gerade mal über dem Kinn, die Mindestabstände werden oft gleich völlig vernachlässigt. Inzwischen ist Herbst und es husten Dir die ersten Erkälteten auf der Rolltreppe ins Genick.
Im Weiteren braucht es (2) Geduld. Dass wir möglichst alles schnellstens wieder genauso haben wollen wie vor COVID-19, ist der menschlichen Ungeduld oder Gewohnheit bzw. Bequemlichkeit geschuldet, aber diese Eigenschaften sind heute fehl am Platz, um nicht gerade zu sagen kontraproduktiv. Das gilt sowohl für konsumtive Gewohnheiten wie Partys, Ausgehen oder Shoppingweekends als auch für produktive Tätigkeiten. Für beide bieten Hygiene und Distanz immer noch den besten Schutz.
Was es zudem braucht ist (3) Einsicht. An der mangelt es besonders, erst noch zunehmend und vielerorts. Wir wissen über das Virus mehr als im Frühling des Jahres, mag ja so sein, aber immer noch zu wenig, um die Zügel wieder schleifen zu lassen oder sogar gleich politische Verschwörungstheorien zu stricken. Dennoch glauben nicht wenige Leute, dass es nun mit Einschränkungen reicht und die Massnahmen insgesamt über das Ziel hinaus schossen/schiessen. Denen kann man nur in Erinnerung rufen, was im März in Ischgl geschah oder in Bergamo. Zu langes Warten kann teurer kommen als schnelle Vorsicht im Fall des Zweifels. Fahrlässigkeit können wir uns nun überhaupt nicht leisten, auch wenn die Prognosen wieder optimistischer ausfallen. Wenn nicht wir es jetzt in den Griff bekommen, wird eventuell bald jemand anders dafür sorgen. Wollen wir wirklich einen solch heissen Herbst?
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen