Wer hätte gedacht, dass es nach Boris Johnson noch schlimmer kommen könnte für das Vereinigte Königreich? Der gute Boris hat zuletzt mächtig über die Stränge geschlagen, aber hauptsächlich auf Partys und wenn es darum ging, die Wahrheit zu verbiegen. In der Politik konnte er nicht mehr punkten und sein teils krankhafter Ehrgeiz war schon lange zuvor auf der Strecke geblieben. Ein Neuanfang sollte es werden nach all den Turbulenzen, die Johnson verursacht hat, doch nun stehen die Engländer erneut vor einem Scherbenhaufen, den eine Frau zu verantworten hat, deren Ehrgeiz noch kränker zu sein scheint als derjenige Johnsons in seinen besten Tagen. Liz Truss dürfte sich wohl ebenso wie ihr Vorgänger so lange an die Macht klammern, wie es nur möglich ist, obwohl ihre steilen Pläne sich bereits in Luft aufgelöst haben.
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen
Das erste Bauernopfer ist bereits Geschichte. Kwasi Kwarteng wird als der Finanzminister mit der zweitkürzesten Amtszeit in die Geschichte Grossbritanniens eingehen. Kürzer war nur Iain Macleod im Jahr 1970 im Amt gewesen. Der wurde aber nicht zum Rücktritt gedrängt, sondern starb 30 Tage nach Amtsantritt an einer Herzattacke. Kwarteng brachte es gerade mal auf 39 Tage. Mit dem Rücktritt Kwartengs sind auch die grossspurigen wirtschaftspolitischen Pläne von Liz Truss, die so gern als neue eiserne Lady in die Geschichte eingehen würde, am Ende, bevor diese überhaupt in die Tat umgesetzt werden konnten. Denn der neue Finanzminister Jeremy Hunt hat die hochtrabenden Steuerpläne seiner Regierungschefin mehr oder weniger vollständig rückgängig gemacht. Um zu verhindern, dass die Finanzmärkte weiter verrücktspielen, zog er die Pläne sogar vor dem Ende Oktober geplanten Termin zurück. Auch die Energiehilfen, die Truss in Aussicht gestellt hatte, strich er erbarmungslos zusammen. Von den 45 Milliarden Pfund geplanten Entlastungen liess Hunt gerade mal noch 13 Milliarden durch.
Damit hat die eiserne Lady schon mächtig Rost angesetzt und könnte schon bald Opfer ihres Versagens werden. Sie hat ihren Freund Kwarteng ihrem Feind Hunt geopfert, ein Akt der Verzweiflung, mit dem sie gleichzeitig weite Teile ihrer Macht abgibt. «Trussenomics» hatte sich die Gute anders vorgestellt.
Doch damit nicht genug, sie musste auch noch selbst verkünden, dass der Spitzensteuersatz nicht gesenkt wird und auch nichts aus der Senkung der Unternehmenssteuern wird. Darüber hinaus will Hunt nun die Staatsausgaben kürzen und schliesst auch weitere Steuererhöhungen nicht aus. Die von Truss und Kwarteng für April 2023 angekündigte Einkommenssteuerentlastung steht dem Vernehmen nach ebenfalls bereits zur Disposition. Eine Niederlage, von der sie sich vielleicht nicht erholen wird. Was als Erfolgsstory geplant war, ist jedenfalls schon jetzt im Keim erstickt. Mal sehen, wie lange Truss noch überlebt. Viel Kredit hat sie jedenfalls nicht mehr im Königreich und die britische Opposition sägt bereits an ihrem Stuhl.
Grossbritannien hat noch nicht einmal den Brexit verdaut und liegt wirtschaftlich am Boden. Unruhige Zeiten stehen dem Land bevor. Ganz anders Deutschland. Dort regiert ein Mann, den man als Regierungschef kaum wahrnimmt. Die Deutschen nennen ihn den Schlafschlumpf, was so verniedlichend wie abwertend gemeint ist. Er hat genug mit sich und einer Ampel zu tun, von der man nie weiss, ob sie nun rot oder grün ist oder eben gerade von gelb auf rot oder von gelb auf grün schaltet. Derweil sich die Grünen winden und sämtliche ökologischen moralapostolischen Prinzipien über Bord werfen, versucht ein einsamer Finanzminister die Kasse einigermassen zusammenzuhalten. Kreativ ist die Finanzpolitik allerdings nur, wenn es um neue Wortschöpfungen für mehr Schulden geht. Sondervermögen für die Bundeswehr ist für mich bislang der Spitzenreiter dieser neuen Wortschöpfungen. Nett harmlos klingt auch der «Sonderhaushalt». Unter dem Strich: alles neue Schulden.
Dass «Schlafschlumpf» Scholz dem Streit zwischen Wirtschaftsminister Habeck und Finanzminister Lindner über die «Sonderlaufzeit» der drei noch am Netz hängenden deutschen Atomkraftwerke ein Ende gesetzt und vor allem dem Finanzminister Kompromisse abgerungen hat, grenzt fast schon an ein Wunder. Vielleicht wollte er damit auch das Schlafschlumpfimage beiseiteschieben. Dass Deutschland aber regiert wird und nicht wegdebattiert, ist damit noch lange nicht erwiesen. Und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis Wirtschafts- und Finanzminister wieder aneinander geraten, so harmonisch sie auch ihr gemeinsamen Auftritte gestalten möchten.
Italien hat dafür in Ignazio La Russa einen neuen Senatspräsidenten mit einer Mussolini Statue im eigenen Zuhause. Vor vier Jahren führte er die Journalisten des Corriere della Sera in seiner Wohnung in Mailand vor. Mit der Bemerkung, er habe der Statue einen roten Stern zugefügt. Das kommunistische Symbol klebe allerdings unter den Füssen der Statue. Am Freitag wurde dazu noch der Matteo Salvini Lega-Parteifreund und Putin-Versteher Lorenzo Fontana zum Chef der grossen Abgeordnetenkammer gewählt. Er war der Wunschkandidat Giorgia Melonis, die vielleicht schon kommende Woche zur Ministerpräsidentin gekürt wird. Damit bekleideten dann Postfaschisten und eine Proletin für Familie, Vaterland und traditionelle Werte die höchsten politischen Ämter in der drittgrössten Volkswirtschaft der EU.
Wie krass ist das? Italien war schon immer – nennen wir es sonderbar, aber es ist schon fast tragisch, wie Italienerinnen und Italiener jeweils den kuriosesten Figuren auf den Leim gehen. Noch viel weniger nachvollziehbar ist, dass sie mit Mario Draghi erstmals seit Jahrzehnten einen Ministerpräsidenten verabschieden, der tatsächlich etwas für das Land und nicht nur für sich selbst und seine Entourage tun wollte. Zusammenfassend und ohne sich noch länger mit Macron, Orban oder anderen Lichtgestalten der europäischen Politik zu beschäftigen, bleibt wohl nur noch zu sagen, Demokratie ist in Europa schon längst nicht mehr die Macht des Volkes. Denn das Volk hat gar keine Wahl mehr, sondern muss letztlich nehmen, wer will – ob fähig oder nicht – und nicht wen es will. (Raiffeisen/mc)