Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Die Zauderer
Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Quintus Fabius Maximus Verrucosus war fünfmal römischer Konsul und sogar zweimal Alleinherrscher Roms. Im Jahre 217 v. Chr. wählte ihn das römische Volk zum Diktator. Rom sah sich damals einer einzigartigen historischen Bedrohung gegenüber, welche seinen Aufstieg zur Weltmacht in Frage stellte. Nach der siegreichen Schlacht am Trasimenischen See marschierten die Karthager unter Hannibal Richtung Rom, ohne dass sich ihnen eine römische Streitmacht in den Weg gestellt hätte. Rom war aber mehr oder weniger ungeschützt. Es ist heute weder nachvollziehbar, wieso die Karthager Rom nicht eroberten noch wieso die Römer nicht versuchten, die Karthager schon weit vor Rom abzufangen.
Im Nachhinein stellte es sich als Glücksfall heraus, dass die römischen Legionen unter der Befehlsgewalt von Quintus Fabius nie die offene Feldschlacht gesucht hatten. Diese abwartende Taktik brachte Quintus nicht nur wenig Sympathien ein, sondern auch den Beinamen „Cunctator“, was so viel bedeutet wie Zauderer und sicherlich kein Lob ausdrückt. Die hoffnungsvolle Passivität war die exakt richtige Strategie, wenn auch nur zufällig.
Das war vor gut 2000 Jahren. «Bis repetita non placent» – «Wiederholungen gefallen nicht», sagt der Lateiner. Doch sechs Jahre nach der Lehman Pleite ist das Zaudern nicht nur wieder salonfähig, sondern scheint sogar zur obersten politischen Handlungsmaxime zu werden – immer wieder. Nur heute ist es kein einzelner Diktator mehr, der zaudert, sondern das Diktat des Zauderns ist selbst zum Regime geworden. Denn es regieren gleich mehrere Zauderer, die alle eins gemein haben. Sie hoffen, dass es die Zukunft richten wird, um nicht schon in der Gegenwart die ganze Wahrheit erzählen oder unangenehme Entscheidungen treffen zu müssen. Exemplarisch lässt sich das an Griechenland festmachen, dessen Spiel auf Zeit bzw. gegen die Zeit einem inzwischen so vorkommt, als dass es gar nicht mehr um den Faktor Zeit ginge sondern darum, der zaudernden EU das Verschulden für die eigene Misere des Zauderns in die Schuhe zu schieben.
Für jede Bringschuld, die Griechenland bisher nicht bediente, wurden seitens der EU höchstens die Tonalität verstärkt, aber nie Sanktionen gesprochen und maximal konditionierte Fristen gesprochen. So wird Griechenland immer wieder mehr Zeit gewährt, wenn dem Land der Ausfall droht und es den Auflagen der «Troika» nicht nachkommt. Das Spiel geht nur mittlerweile schon so lange, dass auch die Geduld der Finanzmärkte allmählich zu reissen droht.
Vorübergehend hatten sie Griechenland sogar als ausnahmsweisen Betriebsunfall abgeschrieben, den die Währungsunion verkraften würde. Doch spätestens seit dem erneuten Zahlungsaufschub für die Griechen bis Ende des Monats wird auch den Märkten klar, dass sich das ewige Zaudern und Durchwursteln dem Ende zu neigt. Wohl vornehmlich deshalb kamen die europäischen Aktien letzte Woche gehörig unter Druck.
Auch in den USA
Das Zaudern ist indes kein europäisches Phänomen und längst nicht nur ein Charakteristikum der globalen Exekutiven. Auch die, die längst das Zepter übernommen haben, die Notenbanken sind dem Zaudern verfallen. Im Unwissen darüber, was passieren wird, wenn die monetären Rahmenbedingungen auch nur im Kleinsten wieder Richtung Normalität ausgerichtet werden, lassen sie es lieber gleich sein, diese herbeizuführen. Die Dauerwarnzentrale der Weltmärkte, der Internationale Währungsfonds, fordert nun sogar die amerikanische Notenbank dazu auf, die Zinsen bloss nicht zu früh anzuheben, also weiter zu zaudern. Nichts anderes tat die US-Notenbank bisher auch, nun wird sie auch noch ermutigt, diesen Kurs des Zauderns fortzusetzen. Das dürfte der amerikanischen Notenbankchefin Janet Yellen einerseits wie gerufen kommen. Sie möchte ja schliesslich nicht der Katalysator dafür sein, dass das Ende des Zauderns in ein Grauen mündet.
Andererseits verlieren aber die Finanzmärkte allmählich die Geduld. Der erneute Ausverkauf an den globalen Rentenmärkten, die Korrektur der Aktiennotierungen in Europa bzw. deren Seitwärtsbewegung in den USA sowie die immer wieder emporschnellende Volatilität an allen Märkten sind deutliche Anzeichen dafür, dass die Märkte Antworten suchen und nicht Trost. Trost im Sinne einer Vertröstung auf später. Damit geben sich die Märkte nicht mehr lange zufrieden.
Zeit zum Handeln
Zaudern heisst nichts anderes, als Zeit zu kaufen. Das kann, wie uns die Geschichte lehrt, in Einzelfällen eine erfolgreiche Strategie sein, wenn die teuer erworbene Zeit auch genutzt wird. Rom z.B. nutzte damals die Zeit, um sich zu wappnen und hatte dazu noch das Glück eines plötzlich ebenfalls ins Zaudern verfallenden Hannibals. Auf dieses Glück können die amtierenden Zauderer nicht mehr hoffen. Das machen die jüngsten Reaktionen der Finanzmärkte deutlich. Die Korrekturen kamen nicht etwa wie die letzten Jahre aus Angst davor zustande, das Zaudern würde Taten weichen, sondern weil das Zaudern Bestand zu haben scheint. Eine klare Botschaft der Märkte: Zaudern gefällt nicht mehr, es wird Zeit zum Handeln.
Es ist nicht nur ungewiss sondern vielleicht auch ein Spiel mit dem Feuer, das Ultimatum für Griechenland konsequent einzufordern oder in den USA im September die Zinsen zu erhöhen oder die Haushaltskonsolidierung in den Industriestaaten ernsthaft zu forcieren. Doch das Spiel auf Zeit ist mittlerweile auch ein Spiel mit dem Feuer geworden, wie die Märkte zuletzt artikulierten. Sie erleben die Zauderei immer mehr als Schrecken ohne Ende, ganz und gar nicht im Sinne der Zauderer. Denn die müssen nun doch noch tun statt lassen. Wir werden sehen, ob sie Ende Juni schon dazu bereit sind. Die Märkte dürften bis dahin kaum Ruhe geben. Es hat sich ausgezaudert.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen