St. Gallen – Von meinem Schullatein weiss ich noch vage, dass „disrumpere“ platzen, zerreissen oder zerbrechen heisst. Im Grunde genommen also nichts Schönes. Das daraus abgeleitete Adjektiv disruptiv war sowohl in der deutschen Sprache als auch im angelsächsischen Raum ein fast nie bis selten geäussertes Wort. Wahrscheinlich im Silicon Valley wieder ausgegraben, ist es aber inzwischen weltweit in fast jeder Munde.
Es gibt in Gesellschaft und besonders Wirtschaft kaum mehr jemanden, der etwas auf sich hält und nicht von disruptiver Kraft spricht. Das verspricht Einschaltquoten, denn nur schon von zerstörerischen Kräften zu sprechen und von Umbruch, erschafft viele neugierige Zuhörer. Schliesslich möchten die Menschen wissen, was für ein Hammer da auf sie zukommt, auch wenn er noch so vage beschrieben sein mag und schon gar nicht quantifizierbar ist.
Meistens begegnet man „disruptiv“ im Kontext von Technologie und besonders oft da, wo von Digitalisierung die Rede ist. In der Dramaturgie der Neotechnokraten gilt die Digitalisierung als disruptive Technologie par excellence. Sie wirft alles um, definiert unser Arbeits- und Berufsleben um, herrscht so über unseren Alltag und – ja – definiert das Leben neu. Zwar versteht fast jeder etwas anderes unter Digitalisierung und wenn sie nach einer schlüssigen einheitlich konsistenten Begriffserläuterung suchen, so ist das vergebens. Übereinstimmung herrscht aber trotzdem darin, dass die Digitalisierung welcher Ausprägung auch immer in fast allen Bereichen unseres Lebens zu einem Bruch führen wird. Wir haben es demnach mit einer gewaltigen Welle ungehöriger Kraft zu tun, der wir nicht ausweichen können.
Aber ist das wirklich so? Dass Smartphone und Computer nicht mehr aus unserem täglichen Leben wegzudenken sind und die Robotertechnik auf dem Vormarsch ist, ist Faktum und ein irreversibler Trend. Aber wie weit dieser Trend gehen wird, kann kaum jemand sagen. Wird wirklich alles, was heute analog funktioniert, vielleicht am Ende sogar intime zwischenmenschliche Beziehungen bald schon digital transformiert sein? Schon heute suchen viele die Liebe ihres Lebens im virtuellen Raum. «Sicher», sagen dazu fast alle Prognostiker in beunruhigender Übereinstimmung. Doch fragt man nach, was und wo konkret digital revolutioniert wird, bringen alle die gleichen aber wenigen konkreten Beispiele und bewegen sich danach schnell einmal auf Allgemeinplätzen. Dann ist von der Revolutionierung der Bankenwelt die Rede, von einer Planungsbranche, die komplett durcheinander gewirbelt würde oder von neuen Beziehungen zwischen Kunden und Geschäft. Das selbstfahrende Auto darf in einem Vortrag zur neuen Zukunft genau so wenig fehlen wie Uber oder Airbnb. Die beiden letztgenannten hätten es vorgemacht, wie man gross wird, nämlich indem man die neuen Technologien optimal nutzt. Deren Wachstum ist durchaus beeindruckend, doch heisst das lange noch nicht, dass nur noch dynamisch wächst, wer konsequent auf Digitalisierung setzt. Eine volkswirtschaftliche Nutzen-Kostenanalyse müsste ja auch in Betracht ziehen, dass die Taxibranche oder Hotellerie darben, wenn ihnen Billiganbieter den Markt streitig machen.
Digitalisierung generiert kein Wachstum
Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht resultiert bestenfalls (!) ein Nullsummenspiel, denn Wachstum generiert die Digitalisierung nicht, sondern eine Neuverteilung der Wertschöpfungskette oder deren Aufbrechen. Des einen Erfolg – sprich Uber – ist die Niederlage der anderen, in dem Fall der Transport- bzw. Taxibranche. Digitalisierung verteilt also vor allem Marktanteile um, erhöht die Produktivität und kostet letztendlich Arbeitsplätze. Blinde Euphorie ist daher wenig angezeigt. Wenn Digitalisierung eine Steigerung der eigenen Wertschöpfung ermöglicht, ist sie wirtschaftlich gesehen attraktiv.
So betrachtet sind die Technologiefirmen die eigentlichen Nutzniesser des Digitalisierungshypes und Silicon Valley gibt im Thema die Marschrichtung vor und bestimmt den Takt gleich mit. Der ist allerdings so hektisch, dass er offenbar Druck auf viele Entscheidungsträger erzeugt. Wenn die sich bei ihresgleichen umhören, dann ist Digitalisierung das Thema. Wenn dann ein „Digital Native“ an einer Tagung der viel älteren Zuhörerschaft vorführt, was man mit einem iPad so alles anstellen kann und welche Apps gerade in Entwicklung sind, gewinnt mancher den Eindruck, ins Hintertreffen zu geraten. Und dann gibt es da noch die 3D-Drucker, mit denen sich mittlerweile Häuser bauen lassen. Höchste Eile ist geboten, den Trendzug nicht zu verpassen – so lautet zumindest der Grundtenor der Digitalisierungsfanatiker.
Eile ist schon geboten, aber das gilt vor allem in den technologienahen Branchen, die ihre Ideen marktreif machen wollen. Aber kaum muss sich der örtliche Bäcker, Versorger oder das Dorfrestaurant auch damit befassen und wir alle wohl auch nicht. Der Markt wird die Antworten geben (müssen), der steckt allerdings noch in den Kinderschuhen, gemessen am grenzenlosen Potenzial des riesigen Universums technologischer Neuerungen. Als das Automobil erfunden wurde, wussten die allerwenigsten Menschen etwas über dessen Technologie. Die ersten Nutzer waren zwar Pioniere, aber auch nicht mehr. In den Gründerjahren wurden sie von manchem Reiter überholt, weil sie Pannen hatten. Erst einige Jahrzehnte später waren Automobile massentauglich.
Nachdem sich die erste Sonde dem Mars genähert hatte, ging die Menschheit davon aus, dass man in etwa dreissig Jahren auf dem Mars landen würde. Heute schätzt die Wissenschaft den Zeithorizont für eine mögliche Landung auf dem Mars genau gleich lang ein, will heissen die Prognose wurde nach hinten korrigiert. Stets wenn neue Technologien Einzug hielten, vertraten die Insider den Standpunkt, dies sei der Beginn einer exponentiellen Entwicklung. Auch Google, Apple und Co. betonen jeweils das exponentielle Element ihres Schaffens. Sättigung der Konsumenten gibt es in deren Welt nicht, weil technologisch stets neue Bedürfnisse generiert werden können. Sie haben heute schon einen hohen Anteil unserer Freizeit übernommen. Nun halten sie in den Firmen Einzug, mit dem Versprechen, Teile der Wertschöpfungskette zu revolutionieren und die Betriebe für die neuen Herausforderungen optimal zu rüsten.
Tolles Geschäftsmodell
Die Krux daran: Diejenigen, welche solche Herausforderungen definieren, bieten dem Kunden zugleich auch die Anleitung für deren Meisterung. Ein fantastisches Geschäftsmodell, aber letztlich nur für die Technojünger, denn sie graben den Unternehmen Teile von deren Wertschöpfungskette ab mit dem Versprechen höherer Produktivität und Marktfähigkeit. Sie suggerieren, was der Kunde von morgen wünscht, damit die Unternehmen es heute schon bereitstellen, gratis versteht sich. Das kann für ein Unternehmen nur aufgehen, wenn es Einsparungen realisiert und/oder die Profitabilität steigert, was wiederum nicht alle schaffen. Es geht also um Marktanteile und ganz und gar nicht um Wachstum, zumindest aus Sicht der Unternehmen. Vielleicht sind am Ende ja die auf der Gewinnerseite, die Kundennähe und Service analog weiterleben. Die erkennt man dann am Gesicht und nicht am Display. Und zuletzt noch die alles entscheidende Frage: wird am Ende nicht die Zahlungsbereitschaft der potenziellen Kunden massiv überschätzt? „Digital Natives“ finden alles gut, was mit Digitalisierung zu tun hat; nur darf es nichts kosten.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen