Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Vergangenen Donnerstag hat die europäische Zentralbank wieder klar gemacht, wem sie dient – dem Finanzmarkt und den (öffentlichen) Schuldnern, nicht aber der realen Wirtschaft.
„Auf der heutigen Sitzung, die in Malta stattfand, hat der EZB-Rat beschlossen, den Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte sowie die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilität unverändert bei 0,05 %, 0,30 % bzw. -0,20 % zu belassen“ – so die ausgesprochen kurze Pressemitteilung der EZB zu ihren geldpolitischen Beschlüssen vom 22. Oktober. Das Geld bleibt also weiter hin so billig, wie nie zu vor in der europäischen Geschichte, obwohl die Konjunktur am Vormittag des 22. Oktobers mit sehr stabilen europäischen Einkaufsmanagerindizes aufwartete und inzwischen eine Robustheit ausstrahlt, die eher für ein Herabsetzen der Alarmbereitschaft sprechen.
Die Zinsen bleiben aber tief, lautete die erste Botschaft der EZB-Mitteilung und das war exakt, was der Markt auch erwartet hatte. Die zweite Botschaft lieferte Mario Draghi in seinen mündlichen Ausführungen nach und die verlieh den Märkten richtig Flügel. Mit Inbrunst vertrat Draghi die Meinung, dass die EZB sowohl „Willen und Fähigkeit“ besitze, zu reagieren, falls dies nötig sei. Allmählich muss man sich zwar fragen: auf was? Doch die Märkte wollen das gar nicht wissen. Die hatten schon über eine Ausdehnung des QE’s der EZB laut nachgedacht, als die Börse im Sommer ins Stocken geriet. Und wie immer zuletzt liefert(e) Draghi auch dieses Mal, was die Finanzakteure wünschten. Und schon kam wieder Partystimmung auf – fragt sich nur für wie lange.
Der geldpolitische Zug hat inzwischen vielerorts zum Teil massiv Verspätung auf den Konjunkturzug. Doch alles wartet auf die amerikanische Notenbank. In den USA hat der Arbeitsmarkt einen einzigartigen Aufschwung durchlaufen, auf den die Zentralbank nicht mit der Zinswende, die ja nur ein Minischritt wäre in Richtung geldpolitische Normalisierung, reagiert hat. Der Konjunkturzyklus in den USA ist aber längst reif für eine Zinserhöhung. Nur Janet Yellens Mantra lautet immer noch „Warten“. Ist es die Angst vor einer harschen Reaktion der Finanzmärkte, welche die Währungshüter davon abhält, wieder etwas Normalität zu schaffen? Auch Mario Draghi erntet offensichtlich lieber weiter den kurzfristigen Applaus der Märkte, als über einen Paradigmenwechsel nach zu denken.
Mario Draghi möchte – wie Frau Yellen, Herr Abe und alle die anderen Notenbankchefs – am liebsten 1000% sicher sein, dass er die Realwirtschaft wieder auf einen stabilen Wachstumskurs zurückgeführt hat, bevor er das geldpolitische Experiment als beendet erklärt. Nur so können die Währungshüter dieses am Ende auch als Erfolg verkaufen. So wie dies Ben Bernanke jüngst tut, wenn er das Quantitative Easing als alternativlos und eigentliche Erfolgsstory hinstellt.
Aus dem Ruder geraten
In den letzten drei Dekaden hat die Anzahl der Finanzmarktkrisen massiv zugenommen, während heftige realwirtschaftliche Rückschläge eher seltener wurden. Dies ist eine direkte Konsequenz der Globalisierung. Denn die Konvergenz der weltweiten Zinsen, die Öffnung des europäischen Ostens und die Erfolgsstory Chinas und anderer aufstrebender Volkswirtschaften haben die Welt neu definiert, das Wachstum breiter gestreut und nach unten abgesichert. Kapital ist in dieser globalen Welt deutlich schneller unterwegs als Arbeit, aber auch wieder rasch abgezogen, wenn es brenzlig wird. Eine Folge ist ein exorbitantes Wachstum des Finanzmarktes im Vergleich zur realwirtschaftlichen Entwicklung, bei gleichzeitig höherer Anfälligkeit auf Krisen. Zwischen 1990 und 2010 steht einer Verdreifachung des realen Weltbruttosozialprodukts ein Wachstum ausserbörslich gehandelter Finanzprodukte um das Dreihundertfache gegenüber. Die Finanzkrise hat an diesen Relationen nur wenig verändert.
Wenn dieser riesige Markt in Schräglage gerät, zieht er die Realwirtschaft unweigerlich mit. Das ist es, was die Geldhüter fürchten und deshalb suchen sie das Gefallen der Märkte.
Ausstieg verpasst
Seit Beginn der Neunzigerjahre gab es in der Schweiz neben der Wachstumsflaute im Nachgang des Immobiliencrashs nur eine gröbere Rezession, die des Jahres 2009 – ausgelöst durch die Finanzkrise in den USA. Dafür platzten weltweit diverse Immobilienblasen, und Finanzkrisen wie z.B. Russland-, Asienkrise oder das Dotcom Debakel hielten die Finanzwelt bös auf Trab. Mittlerweile sind es nicht Konjunkturzyklen, welche der Realwirtschaft zusetzen, sondern Finanzmarktcrashs. Sie sind seit geraumer Zeit die eigentlichen Auslöser konjunktureller Abschwünge bzw. Einbrüche. Aber Hand aufs Herz: kann ein kosmetischer Zinsschritt wirklich ein Erdbeben an den Finanzmärkten auslösen? Doch wohl kaum. Eine (erste) Zinserhöhung wurde von den Märkten noch nie beklatscht, das liegt in der Natur des Finanzmarktes. Andererseits hat die Realwirtschaft eine solche stets verkraftet, da eine Straffung der Zinsen meist im Umfeld einer rundlaufenden Konjunktur vorgenommen wurde und von den meisten Marktteilnehmern im Vorfeld bereits antizipiert worden war.
Die ist heute völlig verkehrt. Viele Zeichen einer besser laufenden Konjunktur in den USA wurden von Janet Yellen sparsam gewürdigt. Gleichzeitig war sie aber stets bemüht, die Zinserwartungen der Märkte tief zu halten. Mittlerweile scheint es fast, als möchte sie erst gar keine Zinsfantasien mehr an den Märkten aufkeimen lassen. Mario Draghi hat nach eigenem Dafürhalten noch viel Zeit und wähnt sich auf dem richtigen, dem amerikanischen Weg. Er wird sein QE um jeden Preis durchziehen, auch auf die Gefahr hin, den Ausstieg zu verpassen. Wenn es so weit kommt, wird er wahrscheinlich nicht der Erste gewesen sein. Nur leider ein schwacher Trost für die Märkte. (Raiffeisen/mc)
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen