Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Durchzug herrscht

Martin Neff

Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Im Fitnessstudio ertönte plötzlich eine Durchsage, die auf die uns allen bekannten Regeln unseres Bundesamtes für Gesundheit (BAG) aufmerksam machte und dabei natürlich vor allem die Mindestabstandsregeln in Erinnerung rief. Das war ein Novum, dass das per Lautsprecher durchgegeben wurde und da ich auch schon in anderen Fitnesscentern derselben Kette war, erkundigte ich mich, ob das nun schweizweit Standard sei. Doch weit gefehlt. Es herrscht sozusagen Föderalismus und es ist jedem Standort selbst überlassen, wie er die Vorgaben des BAG umsetzt. Erinnert irgendwie stark an die heute gängige Praxis in den Kantonen, wo man gern einmal den Überblick verliert, wer wo was darf, mit Maske oder ohne. Sowas führt zu einem Wildwuchs.

In einem Center haben sie jedes zweite Trainingsgerät mit rotweissen Kleber zugeklebt und so gesperrt. Erstaunlicherweise haben sie das erst gemacht, als der Abstand von 2 Meter auf 1,50 Meter reduziert wurde. Ebenfalls erst dann haben sie in einem anderen Center auch zwischen Laufbändern und Steppern Scheiben aus Plastik montiert, sehr seltsam. Neuerdings steht gross da, man solle die Geräte jeweils desinfizieren, wozu entsprechende Reinigungstücher zur Verfügung stehen. Ich habe allerdings kaum eine Person gesehen, die dies auch befolgte. Das Personal kommt nicht auf die Idee oder es hat keine entsprechende Anweisung, jemanden zu ermahnen, sich an die vor- und grossgeschriebenen Auflagen zu halten. Immerhin hat es den Humor nicht verloren. Als ich fragte, wieso sich niemand daran hält, hiess es: „wir müssen das wohl auf Arabisch anschreiben“. Das war nicht etwa ein ausländerfeindlicher Reflex, sondern ein ernstgemeinter Witz. Wäre es arabisch, würden die Leute es eher beachten, so der Kern der Aussage. Auf Deutsch lese es aber kein Mensch mehr.

Die Durchsage hatte übrigens ebenfalls keine grosse Wirkung. Die meisten haben Kopf- oder Ohrhörer aufgesetzt und hören so gut wie nichts. Die anderen hören weg. Ermahnungen und Warnungen werden umso nutzloser, je mehr sie wiederholt werden. Links rein, rechts raus, Durchzug. Statt dass sie sich in unserem Gedächtnis nachhaltig verankern und wir automatisch das auch machen, was uns geheissen oder empfohlen wird, tun wir wissentlich oder unwissentlich das Gegenteil. COVID-19 hat in aller Deutlichkeit gezeigt: ohne Zwang und Sanktionen geht nichts. Dabei geht es doch um unserer aller Gesundheit und was liegt schon näher bei Nachhaltigkeit, als gesund zu sein. Ist Nachhaltigkeit nicht die alles beherrschende Doktrin?

Verbal vielleicht, aber wenn’s wirklich um Nachhaltigkeit geht, schalten die meisten eben doch auf Durchzug. Durchzug ist ein sehr passender Begriff für das, was wir seit Längerem erleben. Wie lange schon ist die globale Erwärmung ein Thema? Wie lange schon steigen wir aus dem Atomzeitalter aus? Wann genau sollte das fossile Zeitalter zu Ende gehen? Wie lange schon diskutieren wir die Ungerechtigkeiten auf der Welt, von Hunger über soziale Missstände, Rassendiskriminierung und was nicht alles? Eine gefühlte Ewigkeit! Vieles war schon in meiner Kindheit ein Thema, dann in meiner Jugend, dann im Gespräch mit dem eigenen Nachwuchs und jetzt, da die Schläfen längst grau geworden sind, immer noch. Da stumpft man über die Jahre leider ab und irgendwann tut man es dann halt: man schaltet um z.B. am Fernsehen oder gleich ganz auf Durchzug.

Durchzug fördert Abstumpfung
Der Hunger ist ein hervorragendes Beispiel für Abstumpfung. Als ich das erste Mal in meinem Leben in den Nachrichten im Fernsehen in Schwarzweiss sehen konnte, wie Hunger in Afrika aussieht, wollte ich nichts mehr essen. Die Bilder, der abgemagerten Kinder gingen mir dermassen ans Herz, dass ich am liebsten unseren gesamten Speisekammerinhalt direkt nach Biafra geschickt hätte. Ich war untröstlich. Als Jugendlicher demonstrierte ich mit anderen vor Silvester unter dem Motto „Brot statt Böller“. Über all die Jahre hat sich das Thema Hunger aber totgelaufen. Nur wenn man wieder einmal diese Aufnahmen des Ausmasses über den Bildschirm laufen sieht, befällt einen die plötzliche Betroffenheit. Aber man muss ja glücklicherweise nicht hinsehen und kann so auch schnell wieder verdrängen.

Aus dem Auge aus dem Sinn. Zur Lösung kann ein einzelnes Individuum sowieso nichts beitragen, es ist gefangen im typischen Dilemma, das ja auch genau so heisst. Mein Beitrag allein wäre nur ein Tropfen auf den heissen Stein, der kein Menschenleben retten würde, sagt man sich dann. Würden sich hingegen alle beteiligen, wäre der Hunger bald kein Thema mehr. Ein Verzicht auf gerade Mal ein Tausendstel dessen, was wir in den sogenannten hochentwickelten Industrieländern jahrein jahraus konsumieren, würde dem Hunger in der Welt vollends den Garaus machen. Lassen wir das einfach mal so im Raum stehen, ich weiss schon, dass es allein damit nicht gelöst wäre, aber kosten würde es uns faktisch nichts. Steuern erhöht die Politik nicht gern, denn damit steht ihre Wiederwahl auf dem Spiel und um einen afrikanischen Diktator auch nur mass zu regeln, geschweige denn abzusägen, braucht es immer erst mal einen breiten Konsens, den zu finden es Jahre, ja Jahrzehnte braucht – wenn überhaupt. Dann doch lieber auf Durchzug schalten, bald schon wird Abstumpfung daraus und das Problem ist damit vom Tisch.

Politischer Durchzug
Ein Blick auf die aktuelle Situation in Weissrusssland spricht Bände dazu. Wir sind alle entsetzt und entrüstet darüber, wie in Minsk oder anderswo mit ärgster Brutalität gegen Demonstranten vorgegangen wird. Im westlichen Konsens sind sie klar im Recht, da sie einen Wahlbetrüger und Diktatoren nicht mehr länger dulden wollen. Doch die sogenannte internationale Staatengemeinschaft schweigt erst mal und kommt nur ganz langsam aus dem Busch. Die westlichen Demokratien zügeln ihre Reaktionen aus „Angst“ vor einer russischen Intervention. Eine Ausrede, nichts weiter.

Die EU und Merkel taten bisher so wenig, weil sie vor Putin kuschen, müsste es eher heissen. Putin aber wird Lukaschenko kaum retten, denn die Demonstrationen sind nicht antirussisch sondern antitotalitär. Für Trump ist Weissrussland weit weg und der Wahlkampf ohnehin wichtiger. Dabei ist die Situation in Weissrussland dermassen aus dem Ruder gelaufen, dass kein Staat, der sich demokratisch nennt, eine Fortführung des Lukaschenko-Regimes gutheissen kann. Der kollektive diplomatische Druck kann in einer solchen Situation nicht hoch genug sein und es bleibt einzig zu hoffen, dass dieser hinter den Kulissen auch wirkt. Sanktionen treffen hingegen die Falschen. Lukaschenkos Zeit ist ohnehin abgelaufen. Doch jeder Tag, an welchem er an der Macht bleibt, bringt weiteres Elend durch Gewalt und Eskalation. Gesetzt den Fall, Lukaschenko könnte sich doch halten, wie lange würde es wohl dauern, bis wir auf Durchzug schalteten? Ein halbes Jahr? Viel länger kaum, denn auch das lehrt uns COVID-19.

Digitaler Durchzug
Dank Digitalisierung geht das heute alles viel schneller. Am Smartphone haben die meisten von uns sowieso chronisch auf Durchzug geschaltet. Da sitzen sie viel zu eng in der Badi, schon fast aufeinander, jeder starrt auf sein Handy, der eine spielt, der andere guckt Videos, viele chatten, nur nicht untereinander, und gerade mal knapp jeder siebte hat die SwissCovid App geladen. Denn die ist ja freiwillig, funktioniert nicht recht und die Behörden haben das Contact Tracing sowieso nicht im Griff. Wenn dann selbst ein Bundesrat noch auf Durchzug schaltet und öffentlich bekundet, er lade die App nicht, weil er sich damit nicht auskennt, kann sie so wichtig auch nicht sein. Die Politik hat auf allen Stufen zu zaghaft agiert und scheute Autorität von Anfang an.

Weder dem Bund, noch den Kantonen oder Gemeinden gelang es so, die vielzitierte Selbstverantwortung der Menschen lange am Leben zu halten. Die sind auch deshalb längst im Abstumpfungsmodus, wollen von Corona nichts mehr hören. Gegen Durchzug hilft aber nur Dauerbeschallung und zwar zwangsweise. Doch im antiautoritären Zeitalter ist das kein guter Plan.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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