Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ein Anfang ist getan
Die selbstverschuldete Wohnungsknappheit wird uns noch lange beschäftigen. Die Zahl der im Bau befindlichen Wohnungen ist nach wie vor zu niedrig, um die Nachfrage zu decken. Einzig die Ankurbelung der Bautätigkeit vermag mittelfristig den rasanten Anstieg der Mietpreise zu dämpfen, der viele Mietende zur Verzweiflung treibt. Dafür müssen jedoch zahlreiche Hindernisse, die die Verdichtung und den Wohnungsbau behindern, aus dem Weg geräumt werden. Im September 2024 wurde, weitgehend unbemerkt von den Medien, eine erste Barriere weggeräumt.
Bundesgericht am Ursprung des Problems
Die Rede ist von der Lärmgesetzgebung, deren unerwartet strenge Auslegung durch das Bundesgericht im Jahr 2015 den Bau von Tausenden von Wohnungen in der Schweiz blockierte. Was war geschehen? Jahrelang wandten kantonale Bauämter mit der sogenannten Lüftungsfensterpraxis eine pragmatische Lösung an, welche versuchte, sowohl der Lärmgesetzgebung gerecht zu werden als auch dem Bau von Wohnliegenschaften an lärmexponierten, städtischen Lagen. Mit dieser Praxis wurden im Sinne der Verdichtung Bauprojekte an exponierten Lagen bewilligt, sofern die Lärmgrenzwerte der empfindlichen Räume mindestens an einem Fenster eingehalten wurden. Doch das Bundesgericht hebelte mit seinem Entscheid 2015 diese Lüftungsfensterpraxis aus und verlangte, dass die Immissionsgrenzwerte für Lärm grundsätzlich an allen Fenstern von lärmempfindlichen Räumen eingehalten werden.
Zwar liess das Verdikt des Bundesgerichts Ausnahmen zu, doch solche Abweichungen von der Regelbauweise öffnen den Rekursen von Nachbarn und Nachbarinnen, die nur eine Möglichkeit suchen, das Bauvorhaben zu verhindern, Tür und Tor. Ende 2023 waren gemäss Stadtpräsidentin Corine Mauch allein in der Stadt Zürich über 3000 Wohnungen durch Lärmeinsprachen blockiert. Die Politik reagierte nach dem Bundesgerichtsurteil sehr rasch. Nationalrat Beat Flach forderte 2016 mit einer Motion eine Gesetzesänderung mit dem Ziel einer Rückkehr zur breit anerkannten, alten Praxis. Die Bundesversammlung überwies darauf dem Bundesrat, welcher die Motion ablehnte, den Auftrag, das Umweltschutzgesetz entsprechend anzupassen. Doch das zuständige Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation unter der Leitung von Simonetta Sommaruga blieb lange untätig und liebäugelte derweil mit weiteren Verschärfungen. Erst nach einer skandalösen sechsjährigen Verschleppung legte das Departement dem Parlament die Botschaft zur Änderung des Umweltschutzgesetzes (USG) vor.
Quittung für die lange Verschleppung
Die Verhinderungspraxis war jedoch ein Pyrrhussieg, denn das Parlament entschied sich letztes Jahr für eine Lösung, die nun sogar über die Wiedereinführung der Lüftungsfensterpraxis hinausgeht. Künftig genügt es, wenn mindestens die Hälfte der Wohnräume in Neubauten über ein Fenster verfügen, bei dem die Lärmgrenzwerte eingehalten werden. Bei Installation einer kontrollierten Lüftung ist auch diese Mindestbestimmung hinfällig, sofern ein Kühlsystem im Sommer für eine Auskühlung der Räume sorgt.
Die Lärmgesetzgebung ist ein gutes Beispiel dafür, wie überzogene Regulierungen unbeabsichtigte Folgen haben können. Dabei haben die Abstimmenden einer solchen Güterabwägung zwischen Lärmschutz und verdichtetem Bau von Wohnraum gar nie zugestimmt. Das Bundesgesetz über den Umweltschutz (USG), das den Lärmschutz beinhaltet, wurde 1983 von den Eidgenössischen Räten verabschiedet und trat 1985 in Kraft, ohne dass das Referendum ergriffen wurde. Die nachfolgende Lärmschutzverordnung war letztlich eine reine Verwaltungsangelegenheit, deren Tragweite der Bundesrat wohl nicht erkannte, als er die Verordnung 1986 absegnete.
Nur ein erster Schritt
Trotz des Durchbruchs bei der Lärmproblematik bleibt der Weg zu einer spürbaren Entspannung am Wohnungsmarkt lang. Der rekurswilligen Gegnerschaft der Innenverdichtung stehen mit dem Inventar für Ortsbildschutz (ISOS) sowie mit der vom Bundesgericht massiv ausgeweiteten Einspracheberechtigung weitere Instrumente zur Verfügung, um Bauvorhaben um Jahre zu verzögern. Allein bis die neuen Lärmschutzregeln in Kraft treten, dürften gemäss dem Departement für Umwelt erneut zwei bis drei Jahre vergehen. Zuerst müssen die neuen Bestimmungen in eine Verordnung gegossen werden, die dann noch einer Vernehmlassung unterzogen wird.
Quick Wins gibt es nicht
Schnelle Lösungen sind auch in anderen Problemfeldern nicht in Sicht. Wenn man bedenkt, dass die Lärmproblematik im Endeffekt zu einer Baublockade von über zehn Jahren geführt hat, ist Geduld gefragt. Lösungsideen für die Wohnungsknappheit sind zwar vorhanden, doch gibt es darunter keine, die kurzfristig wirksam wären. Um weitere Fehlentwicklungen zu korrigieren, steht ein beschwerlicher Weg durch die gesetzgebenden Instanzen an. Denn es müssen Gesetze und Verordnungen angepasst werden. Noch ganz am Anfang steht die Rückführung der Einsprachelegitimation zur ursprünglichen Praxis, welche das Bundesgericht mit zwei Entscheiden 2011 und 2017 massiv ausgeweitet hat. Dazu hat Ständerat Andrea Caroni 2024 ein Postulat eingereicht. Der Weg ist demnach noch lang, doch ein Anfang ist getan. (Raiffeisen/mc)