Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Eine Feudalmacht entsteht

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Eine Feudalmacht entsteht
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – Die digitale Revolution steht erst am Anfang und doch ist sie heute schon überall. Ohne Internet sind wir nahezu lebensunfähig. Das Handy ist aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Nur noch schnell eine SMS versenden, die Mails checken oder den nächsten Termin abrufen – wer kennt das nicht. Stets und überall präsent, aber nirgends richtig, das ist der Mensch heute. Alles läuft schnell, sehr schnell sogar, doch nur wenig wird zu Ende gedacht.

Kein Wunder, denn richtig konzentriert über eine längere Zeitspanne ist heute eigentlich kaum mehr jemand bei einer Sache, ausser am Computer versteht sich. Dabei hätte kaum jemand Freude, würde der Chirurg im Operationssaal seine SMS abrufen oder der Pilot im Cockpit Angry Birds spielen. Doch zu gross sind die Verlockungen kurzweiliger, rund um die Uhr verfügbarer mobiler Ablenkung. Das ist prekär. Wir vergessen, unser Gehirn zu trainieren, das zusehends ausser Form gerät. Unfälle häufen sich, die auf sogenannte Ablenkung (!) zurückzuführen sind. Meist heisst dies, dass der Blick auf einen Bildschirm gerichtet war, statt auf die Strasse, die Maschine oder auf die Arbeit. Dass die Arbeitsproduktivität dank Computer zugenommen hat, steht ausser Frage, jedoch nur netto. Denn trotz höherer Effizienz über alles gerechnet, beschäftigen wir uns auch mehr mit völlig Irrelevantem, das im Netz so herumschwirrt. Oder senden Selfies vom Arbeitsplatz aus, um der Welt mitzuteilen, wie langweilig es uns gerade ist.

In einem Bericht aus dem Kanton Luzern wurde jüngst publik, dass Kantonsangestellte während der Arbeitszeit oft und gern privat auf dem Internet surfen und zum Beispiel 500 Mal täglich auch auf Seiten mit pornographischen Inhalten verweilen. In Finanzkreisen ist „Inside Paradeplatz“ heute scheinbar eine der meistgelesenen Plattformen. Dabei handelt es sich um fast lupenreinen Boulevardjournalismus. Die Inhalte sind in vielen Banken dennoch Thema eines ersten morgendlichen Gesprächs mit Kollegen, obwohl meist völlig irrelevant für das Geschäft.

Sucht statt Effizienz
Die Ablenkung wird mehr und mehr zu Sucht. Gemäss der alle vier Jahre durchgeführten Schülerbefragung der Weltgesundheitsorganisation WHO geniessen Alkohol, Tabak und Cannabis nicht mehr den Stellenwert wie früher. Kein Wunder, wenn man mehr als drei Stunden täglich vor den Bildschirmen verbringt, bleibt auch weniger Zeit für anderen Unsinn übrig. „Jugendliche greifen lieber zum iPhone als zum Joint“ überschrieb 20 Minuten Online die Ergebnisse der weltweiten Schülerbefragung. Ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass mobile Kommunikationsgeräte und Computer ein hohes Suchtpotenzial aufweisen. Je länger je mehr scheint sich dies nun auch empirisch erhärten zu lassen. Doch während Cannabis vielerorts verboten und Alkohol sowie Tabak staatlich reguliert und hoch besteuert werden, geniesst die Hightech-Computer-Branche fast völlige Narrenfreiheit. Dabei greift sie schon längst nach der Weltmacht.

Im Silicon Valley vertreten die libertären Exponenten der Branche offen die Meinung, dass Internet und Co. Orte zum Experimentieren seien, notabene ohne Regeln. Sie werden vom Glauben geleitet, dass der Fortschritt der Technologie deshalb so exponentiell verläuft, weil die Branche kaum reguliert sei. Nur wo alles erlaubt sei und der Staat den privaten Kreativen völlige Freiheit gewähre, könnten Innovationen entstehen. So das Mantra der Branche.

Es ist ja ein unbestritten hehres Unterfangen, dass die Branche das Altern stoppen möchte oder Krebs heilen. Gegen solche Vorhaben ist beileibe nichts einzuwenden. Aber es gibt eben auch die Schattenseiten, insbesondere der gesellschaftliche Wandel, den die neuen Technologien bereits eingeläutet haben. Oder dass der IS auch dank mobiler Kommunikation viel effizienter Krieg führen kann als vor dem digitalen Zeitalter. Dass die Branche nun aufbricht, die Welt zu verändern und das ohne feste Regeln tun möchte, ist einäugig und zu einem gewissen Grad auch verantwortungslos. Die (vermeintliche) Effizienz lässt sich die Branche gern bezahlen, für die Schäden möchte sie hingegen nicht aufkommen.

Die Digitalisierung ist heute eine der wenigen wirklich globalen Bewegungen. Es entsteht hier eine Macht, die keine Politik für deren Ausübung braucht und nationale Grenzen problemlos überwindet.

Schöne Welt, wenig Verantwortung
Die Technik macht alles möglich, so lautet die Devise der Branche. In sämtliche Bereiche unseres täglichen Lebens haben die neuen Technologien längst Einzug gehalten. Im Haushalt, am Arbeitsplatz oder dazwischen – Stichwort Mobilität – mischt die Branche eifrig mit. Es ist ja auf den ersten Blick nichts gegen selbstfahrende Autos einzuwenden oder gegen ein längeres Leben. Nur wenn die Technologie unseren Alltag erobert, anstatt ihn zu erleichtern und Maschinen den Mensch in vielen Bereichen überflüssig machen oder ihn sogar dominieren, dann sind dies Nebenwirkungen, über die man ernsthaft nachdenken sollte. Wo arbeiten etwa all die Angestellten einmal, welche von den Computern wegrationalisiert werden?

Die dreissig grössten Firmen des Silikon Valley stemmen heute über 2‘500 Milliarden Börsenwert auf die Waage. Der deutsche Aktienindex DAX ist nicht einmal die Hälfte wert davon. Das sind die wirtschaftlichen Fakten der neuen Machtverteilung. Jetzt geht es aber auch um die Verantwortung. Dazu hört man aus Silikon Valley allerdings wenig bis gar nichts. Es wird Zeit, dass die Politik die zukünftigen Rahmenbedingungen für die Branche definiert und sie in die Verantwortung nimmt. Und zwar bevor die neue Feudalmacht das politische System völlig aus den Angeln gehoben hat.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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