Vom neuen Normal ist jüngst vermehrt zu hören und zu lesen und wie dieses unser Leben verändern wird, ja die ganze Welt. Ende der Globalisierung, der Urbanisierung, die Renaissance der Nationalstaaten und was nicht alles Corona „angelastet» wird.
Aus einem anderen Lager tönt, das neue Normal sei auch nicht viel anders als der Zustand davor, gemeint ist vor Corona. Das neue Normal mag aktuell in aller Munde sein, vielleicht wird es auch zum Unwort des Jahres 2020, aber wahrscheinlich reicht es nicht für mehr. Es sei denn, eine zweite Welle stört erneut unseren gewohnten Gang des Lebens. Dann könnte das neue Normal unter Umständen vielleicht zu dauerhaften Anpassungen zwingen – notabene zwingen und nicht führen. Ansonsten aber dürfte Corona für die träge Masse der Menschheit maximal zu einer Erinnerung an einen unangenehmen Zustand verkommen und lediglich bei den direkt Betroffenen irreversible Schäden hinterlassen. Wir Menschen vergessen schnell und einschneidende Veränderungen vollziehen wir nur ungern und selten freiwillig. Man denke nur an die Vorsätze für das jeweilige neue Jahr und wie viel von denen Ende Januar noch übrig ist.
Zum Schluss, dass sich nach Corona kaum etwas ändern wird, führt auch die Beobachtung, wie intensiv sich offenbar die Mehrheit von uns danach sehnt, wieder den gewohnten, nicht zusagen verwöhnten Alltag leben zu können. Dass diejenigen, welche unmittelbar wirtschaftlich oder gesundheitlich von Corona betroffen sind oder waren, diesen Wunsch hegen, ist nachvollziehbar. Aber Partymachen am See oder in Clubs, wieder fliegen an jeden noch so entfernten Flecken der Erde und das ohne Scham, sich in Massen bewegen, sei es zum Rockkonzert, Stadtfest oder sonst wohin, schier aufeinander zu liegen im Fitnessstudio oder der Sauna sind im Grunde ja keine Grundbedürfnisse. Genauso wenig wie der Ballermann auf Mallorca, wohin sich nun schon wieder die ersten Versuchskaninchen begeben haben und die Schnäppchenjagd im Lago in Konstanz. Aber sie gehören in unserer Gesellschaft zu den Grundfreiheiten, die jeder hat und sich drum auch nimmt, wenn er es kann. Dazu kommt, dass gerade wir in der Schweiz uns ungern unserer Freiheiten beraubt sehen, schon gar nicht von einer Obrigkeit wie dem Bundesrat. Die besondere Lage ist etlichen ein Dorn im Auge, die ausserordentliche Lage empfanden die meisten gar unzumutbar.
Empörung weicht stets der Abstumpfung
Das dachten wohl auch alle, die am vergangenen Wochenende in zahlreichen Städten – auch hierzulande – an Black Lives Matter (BLM) Demonstrationen pilgerten. In der Berichterstattung darüber erfreute sich unser staatlicher Fernsehsender daran, dass die Aufmärsche – zwar allesamt nicht bewilligt und weit über 300 Personen gross – friedlich verliefen. Die Demonstrierenden erfreuten sich grossen Zuspruchs und der Solidarität unter den vielen Teilnehmenden und drückten ihre Überzeugung aus, mit ihrem Tun eine Veränderung herbeiführen zu können. Ein neues Normal eben? Nur wenige Stunden nach der Beendigung der Kundgebungen erschoss ein Polizist in Atlanta den flüchtenden 27-jährigen Rayshard Brooks, der im Auto eingeschlafen war und sich nach einem positiven Alkoholtest einer Festnahme entziehen wollte, in dem er Widerstand leistete und zu fliehen versuchte.
Erneut kam es nach dem Vorfall zu Kundgebungen, offenbar von etwa 100 aufgebrachten Menschen. Das setzte Donald Trump nach den ohnehin schon wochenlangen Protesten gegen Rassismus in seinem Land offenbar so unter Druck, dass er nun wenigstens einige zaghafte Schritte zu einer Deeskalation ins Auge fasst. Mit der Betonung auf zaghaft. Ein neues Normal? Weder noch, sondern das alte („schmutzige“) Spiel. Rassendiskriminierung vielerorts und Polizeigewalt in den USA sind beileibe nichts Neues und verschwinden nicht, nur weil man dagegen jetzt auch in der Schweiz oder sonst wo demonstriert. Beide unschönen Phänomene werden im Alltag trotzdem immer nur am Rande wahrgenommen, sei es aus Ohnmacht oder Abstumpfung, und zwar stets solange, bis irgendwann irgendwo Bilder auftauchen, die besonders ans Herz gehen und die Menschen aufrütteln, so sehr, dass sie auf die Strasse gehen. Für ein paar Tage oder Wochen, bis der berechtigte – wie ich finde – Groll und die Empörung sich legen.
Tschernobyl, Fukushima, Aylan… aber: Nullzinsen
Als sich 1986 die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl ereignete, dachten viele Teilnehmer der danach einsetzenden Kundgebungen gegen Atomkraft, dass das Momentum nun optimal sei, das letzte Stündchen für Atomkraftwerke einzuläuten. Wie wir heute wissen, hat selbst der Unfall in Fukushima ein gutes Vierteljahrhundert später das Ende der Atomkraft noch nicht besiegelt. Veränderungen, die von Menschen mitgetragen werden müssen, geschehen nun mal nicht über Nacht und werden auch nicht durch eine breite situativ ethische Empörung herbeigeführt, die jeweils durch herzrührige Bilder oder Videos entsteht. Das musste selbst Angela Merkel feststellen, nachdem die Bilder des toten kleinen Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi ihr Herz dermassen berührten, dass sie ernsthaft glaubte „wir schaffen das“. Die Willkommenskultur währte nicht lang, unlängst wurde an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland scharf auf Flüchtlinge geschossen. Selbst die Mächtigen der Welt können die menschliche Trägheit und Vergesslichkeit nicht per Dekret abstellen. Das Normal bleibt bestehen, Europa will im Grunde keine Flüchtlinge. Und genauso wenig wollen wir Ausgehverbote, Maskenpflicht oder Abstandsregeln und halten sie deshalb auch nicht überall ein.
Für Veränderungen braucht es mehr Konsequenz und Ausdauer als Empörung. Und auch das ist keine Garantie für Veränderung, wie uns der arabische Frühling lehrte. Deshalb wird auch das neue Normal bald wieder das alte sein. Nur an den Finanzmärkten hat sich ein neues Normal eingependelt. Die Finanzteilnehmer sind erfahrene Kundgebungsprofis – nicht auf der Strasse versteht sich – und erreichen stets ihr Ziel. Die Börse wird mit Milliardenspritzen der Notenbanken selbst im Auge des Sturms bei Laune gehalten, die Staaten können mit deren Hilfe zum Discounttarif exorbitante Schuldenberge anhäufen und Nullzinsen sind nun zementiert bis wer weiss wie lange. Das ist – ohne Zweifel – ein neues Normal.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen