Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Frankenschock überwunden – von wegen
St. Gallen – „Der Frankenschock ist überwunden“, vermeldete gestern Vormittag das Schweizer Staatsradio unmittelbar nach Bekanntwerden der Wachstumszahlen zum zweiten Quartal 2016. Etwas zurückhaltender äusserte sich gestern die NZZ, bemühte aber doch die gleiche Schlagzeile im Internet, wenn auch im Konjunktiv. Das hatte sie allerdings auch schon Anfang Juni getan. Die Überwindung scheint demnach ein sehr zeitaufreibendes Unterfangen zu sein. Und auch der Tagesanzeiger bemühte das Wort in seiner Online-Berichterstattung, wobei er Überwindung des Frankenschocks wenigstens in Anführungszeichen kleidete. Auch heute waren die Meldungen nicht viel tiefschürfender. Im Originalwortlaut der Pressemitteilung des Staatsekretariates für Wirtschaft (SECO) findet sich indes kein Hinweis auf den Wechselkurs, geschweige denn der Begriff der Überwindung. Offenbar haben sich einige meiner Kollegen in den von den Medien beliebten Blitzstatements dazu hinreissen lassen, die Zahlen als Wende oder gar Ende des Wechselkurstraumas zu interpretieren, ohne die Details genau zu betrachten.
Die Zahlen lassen sich zweifellos sehen – auf den ersten Blick jedenfalls. Um real zwei Prozent wuchs die Schweizer Wirtschaft im Vorjahresvergleich und schlug den Konsens der Erwartungen (0.8%) gleich um über das Doppelte. Mit mehr als einem Prozent hatte kein(e) einzige(r) von Bloomberg befragte(r) Ökonom/in gerechnet. Ebenso wurde das Quartalswachstum, sprich die Zunahme gegenüber dem 1. Quartal 2016, unterschätzt. Der Konsens lag hier bei knapp unter 0.4%, das SECO wies immerhin 0.6% aus. Offenbar war diese Fehleinschätzung Anlass genug, dass sich mancher der Umfrageteilnehmer gemüssigt sah, die besser als erwarteten Zahlen auch gleich zu begründen und dafür bemühten wohl einige den Wechselkurs. Wissen Sie eigentlich noch, wie stark das Wachstum im ersten Quartal 2016 ausgefallen ist? Wenn nicht sind sie nicht die einzigen, aber das ist heute auch nicht mehr von Relevanz, denn längst Schnee von gestern. In die Schlagzeilen schafft es aber nur was neu ist oder überrascht, ganz egal in welche Richtung.
Wetterprognose für die Vergangenheit
Dabei sind die gestern publizierten Daten im Grunde genauso Schnee von gestern, denn das zweite Quartal liegt ja auch schon mehr als zwei Monate hinter uns. Und was auch gern oder aus Unwissen unterschlagen wird, ist die Tatsache, dass es sich bei den Zahlen um recht vage Schätzungen handelt. Die gestern gefeierten Daten werden Anfang Dezember bereits wieder revidiert. Dann nämlich, wenn die Daten zum dritten Quartal 2016 publiziert werden. Nachdem das SECO für das erste Quartal 2016 im Juni noch ein Quartalswachstum von 0.1% geschätzt hatte, kommt es in seiner jüngsten Medienmitteilung schon auf 0.3%, deswegen Schnee von gestern. Das ist keine Kritik an der Arbeit des SECO, sondern die nüchterne Feststellung, dass Schätzungen generell einfach genauer werden, je mehr Informationen vorliegen. Und für das erste Quartal liegen heute nun mal mehr Daten und Informationen vor als zum Zeitpunkt der ersten Schätzung im Juni, was entsprechend zu einer Revision von erstmals ausgewiesenen Schätzungen führt. Übrigens kam es in der Vergangenheit auch immer wieder vor, dass sogar das Vorzeichen wechselte und der eine oder andere Analyst ex post sogar richtig lag mit seiner Schätzung. Nur interessiert das dann niemanden mehr. Faktisch haben wir heute nicht mehr als eine vage Ahnung von einem etwas besseren wirtschaftlichen Klima im Frühling 2016. Wie das Wetter 2016 tatsächlich war, werden wir hingegen erst im Sommer 2017 erfahren, wenn die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung der Schweiz für das Jahr 2016 vorliegt. Ob der Wechselkursschock überwunden ist, werden wir aber selbst dann noch nicht wissen. Ganz sicher leiden noch sehr viele Unternehmen in der Schweiz unter dem harten Schweizer Franken und hoffen auf eine Entspannung. Durchhalten um jeden Preis ist kaum Überwindung. Für eine Entwarnung ist es daher zu früh.
Details gar nicht vielversprechend
Aber auch wenn sich die hohe Wachstumsrate bestätigen sollte, ist Euphorie fehl am Platz, denn die Details sind eher bedenklich. So dominiert einmal mehr die Komponente der sogenannten Vorratsänderungen und statistischen Abweichungen das Bild und zwar in dem Mass, dass ohne dieses höchst vage Aggregat das Quartalswachstum sogar in den Minusbereich gefallen wäre. Der Wachstumsbeitrag der Lager und statistischen Abweichungen betrug satte 0.72%. Dazu, stagnierte die wichtigste Komponente – der private Konsum – mit einer leicht roten Null im Quartalsvergleich. Und auch die Anlageinvestitionen waren rückläufig, die in Bauten um -0.3% und solche in Ausrüstungen sogar um -0.9%. Dass die Exporte zulegten, ist weit-gehend der Pharmaindustrie zuzuschreiben. Ansonsten waren die Exporte mehrheitlich rückläufig, sowohl bei Maschinen, Uhren oder im Fahrzeugbau resultierten rote Vorzeichen und auch die Wertschöpfung im Verarbeitenden Gewerbe war leicht rückläufig. Ohne Pharma- bzw. Chemiebranche wäre zudem der Handelsbilanzsaldo tiefrot, das ist eine schon länger zu beobachtende Entwicklung. Verwendungsseitig mit Abstand am meisten zugenommen hat der öffentliche Konsum (+1.7% gegenüber Vorquartal), der jedoch zum grössten Teil Lohnzahlungen an öffentliche Bedienstete umfasst. Dort spielt sich auch das sogenannte Beschäftigungswunder ab, da seit geraumer Zeit vor allem die öffentliche Verwaltung, das Gesundheits- und Sozialwesen Stellen schaffen. Bereiche also, die vom Wechselkursschock überhaupt nicht betroffen waren. Soviel zum Thema Schocküberwindung. (Raiffeisen/mc/ps)