Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Fressen kommt vor der Moral
Donald Trump polarisiert wie kein Zweiter. Lange habe ich überlegt, ob ich ihn in meiner Kolumne thematisieren will. Ich habe bewusst vor den Wahlen darauf verzichtet. Nicht wir wählen ihn, sondern die Amerikaner und Amerikanerinnen. Und dafür benötigen sie keinen Nachhilfeunterricht. Dennoch muss ich ihn zum Thema machen, denn ich will verstehen, wie es zu dieser Wahl kommen konnte, die mich so ratlos zurücklässt wie selten etwas zuvor.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Ich wurde erzogen, nicht zu lügen. In einer Welt, in der Täuschungen und Unwahrheiten toleriert oder sogar bewusst eingesetzt werden, ist Vertrauen nicht möglich. Ohne wechselseitiges Vertrauen funktionieren weder Wirtschaft noch Gesellschaft. Donald Trump hingegen ist ein notorischer Lügner. Vier Jahre lang verbreitete er ohne jeden Beweis die Lüge von der gestohlenen Wahl, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Er verbreitet Unwahrheiten, die anderen Schaden zufügen und hetzt Menschen gegeneinander auf. Er äussert sich in herabwürdigender Weise über Frauen und Minderheiten. Er hat versucht, den Wahlleiter im Bundesstaat Georgia zum Wahlbetrug anzustiften, er hat einen Mob zum Sturm auf das Capitol angestachelt, um die Bestätigung des Wahlausgangs von 2020 zu verhindern und er hat keinen Finger gerührt, als Menschen dabei zu Tode kamen und sein eigener Vizepräsident Mike Pence an Leib und Leben bedroht war.
It’s the economy, stupid
Für 73 Millionen Amerikaner und Amerikanerinnen scheint das okay zu sein. Sie tolerieren seine überzogene Rhetorik, seine Lügen und Ausfälligkeiten. Wie ist das möglich? Wie kann man so urteilen? Offensichtlich haben die letzten vier Jahre den Amerikanern und Amerikanerinnen stark zugesetzt. Am meisten wohl die Inflation. Seit Joe Bidens Wahl im November 2020 stieg das Preisniveau in den USA um 21 Prozent. Insbesondere die Mittel- und Unterschicht scheint diese täglich wahrgenommene höhere Belastung nicht ausreichend mit höheren Löhnen kompensieren zu können, wie Daten zur Konsumentenstimmung zeigen.
Sollte die Inflation tatsächlich eine derart grosse Rolle gespielt haben, stellt sich aber die Frage, warum die Wählenden nicht auch Trump dafür verantwortlich machen.
Sein 2,2 Billionen USD schweres Konjunkturprogramm im März 2020 (CARES Act) war nur wenig kleiner als die beiden Programme von Biden über total 2,8 Billionen USD, die im Dezember 2020 und März 2021 folgten. Diese exzessiven Stimulierungsmassnahmen und die während der Pandemie angesparten Überschüsse haben die Inflation entscheidend angeheizt. Doch an Trumps Mitbeteiligung scheinen sich die Wählenden kaum zu erinnern.
Trumponomics wirken inflationär
Ebenso nehmen sie es mit der zu erwartenden Entwicklung nicht so genau. Die Wahl von Donald Trump verspricht in keiner Weise eine geringere Inflation. All seine Pläne – von höheren Zöllen über Steuersenkungen, Abschiebungen von Migranten und Migrantinnen bis hin zum Druck auf die Zentralbank – bewirken letztlich eine höhere Inflation. Markus Brunnermeier, Professor für Volkswirtschaft an der renommierten Princeton-Universität und einer der angesehensten Ökonomen in den USA, betont ebenfalls, dass die von Trump beabsichtigte Gegenfinanzierung der Steuersenkungen mit Zöllen rein rechnerisch nicht aufgeht. JPMorgan Chase, die grösste Bank der USA, schätzt, dass ein Zoll von 60 Prozent auf chinesische Produkte und 10 Prozent auf alle übrigen Importgüter die US-Inflation 2025 um 1,5 bis 2 Prozent erhöht. Das renommierte Peterson Institute kommt mit 2 Prozent für 2025 zu ähnlichen Schlüssen. Darin eingeschlossen sind wohlgemerkt nur die Zolltarife und nicht auch noch die anderweitigen inflationsfördernden Vorhaben.
Keine Solidarität mit Zuwandernden
Neben der Wut über die hohe Inflation dürfte auch das Versagen der Demokraten bei der Eindämmung der Einwanderung eine entscheidende Rolle gespielt haben. Für die unteren Einkommensschichten, die Trump mehrheitlich gewählt haben, sind Einwandernde schlichtweg Konkurrenz. Trumps Versprechen, die Einwanderung einzudämmen und sogar Sans-Papiers im grossen Stil auszuschaffen, senkt den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt für einfache Tätigkeiten, was den Lohndruck auf die unteren Einkommensschichten mildert. Nur weil viele aus diesen Schichten einst selbst als Immigranten ins Land kamen, bedeutet nicht, dass sie solidarisch mit all jenen sind, die es auch schaffen wollen. Wie sagte doch Bertold Brecht in der Dreigroschenoper: «Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.» Die Fokussierung der Wahlstrategie der Demokraten auf den Charakter Trumps als moralischer Lump hat sich demnach als wenig effektiv erwiesen.
Bevormundung
Dies gilt umso mehr, als die Unaufrichtigkeit auch zum Repertoire der Demokraten gehört. Sie versuchten lange den Zustand ihres Präsidenten zu verbergen und leugneten hartnäckig, dass er nicht mehr fit war für das Amt. Ihr Vorgehen war einzig etwas subtiler als dasjenige von Trump. Die ständige Bevormundung aber, was in der Genderfrage, der Klimapolitik oder der Aussenpolitik korrekt ist, wollen die Amerikaner und Amerikanerinnen nicht mehr akzeptieren. Es wäre wohl auch zielführender gewesen, die Demokraten hätten das Wahlvolk nicht ständig auf den untauglichen Charakter und die Unanständigkeiten von Trump hingewiesen. Sie vermittelten damit den Eindruck von moralischer Überlegenheit und Hochmut, der bei der Unterschicht nie gut ankommt. Insofern war die jüngste Abstimmung wie schon 2016 eine Protestwahl gegen die Eliten, denen das Gespür für die alltäglichen Sorgen breiter Bevölkerungsschichten in den USA abhandengekommen ist. Sichtbar wird das in den Umfragen, die erneut schwer danebenlagen und die Grundstimmung in der amerikanischen Wählerschaft nicht korrekt erfassen konnten.
Harte vier Jahre
Trumps Wahl ist ein Schlag gegen wertebasierte Prinzipien, demokratische Errungenschaften und die Rechtsstaatlichkeit. Bereits wurden Schritte unternommen, um die bundesstaatlichen Rechtsverfahren gegen Trump fallen zu lassen, obwohl seine Wahl zum 47. US-Präsidenten an seiner Schuld oder Unschuld in keiner Weise etwas ändert. Es dürften vier schwierige Jahre werden, insbesondere für alle diejenigen, die ihren Kindern weiterhin Werte wie Anstand, Moral und Ehrlichkeit vorleben wollen. Wie lösen das wohl die 73 Millionen Trump-Wählenden? (Raiffeisen/mc)