Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Frieren gegen Putin, Spenden für Selenskyj

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Frieren gegen Putin, Spenden für Selenskyj
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Seit der Krieg in der Ukraine tobt, wird Russland mit immer heftigeren Wirtschaftssanktionen belegt. Auch die Schweiz hat – wenn auch etwas verzögert – plus minus mitgezogen. Vorrangiges Ziel der verschiedenen Massnahmen ist es, Putin der Einnahmequellen zu berauben, mit denen er diesen unsäglichen Krieg führt. Parallel dazu gehen immer wieder Menschen auf die Strasse, um gegen den russischen Einmarsch zu demonstrieren, auch hierzulande. Andere helfen direkt, in dem sie Geflüchteten einen Platz in ihrer Wohnung oder ihrem Haus anbieten.

von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Am Sonntag wurden einige von diesen Menschen nach ihren Motiven dafür befragt. Die Antwort war unisono: uns geht es hier in der Schweiz so gut, da ist es selbstverständlich, dass man etwas gibt. Die Glückskette hat für die Ukraine bald 100 Millionen Schweizer Franken eingesammelt. Das ist ein ausserordentlich hoher Betrag, gerade wenn man ihn ins Verhältnis zu ähnlichen Sammelaktionen im europäischen Ausland stellt. Er steht jedoch weniger für eine höhere Hilfsbereitschaft hierzulande, sondern ist lediglich Spiegel unseres ausserordentlichen Wohlstands. Vielleicht spielt für den einen oder anderen unter uns auch ein bisschen das schlechte Gewissen mit rein. Wieso ich darauf komme?

Weil ein Teil unseres Wohlstands auch aus Geschäften mit Russland resultiert. Wie das? Die Schweiz ist bekanntlich eine riesige Drehscheibe des internationalen Handels. Die Grössenordnungen seien nachfolgend kurz umschrieben. Im Jahr 2019 betrug das Gesamtvolumen der Transitwarenverkäufe 879 Milliarden Schweizer Franken und lag somit gut 20 % höher als das Bruttoinlandprodukt (BIP) von 727 Milliarden Franken. Eine beeindruckende Zahl also. Noch beeindruckender ist indes der Überschuss, den der Transithandel erzielt. 2019 waren dies 42,5 Milliarden Franken oder 5,8 % des BIP. Die Marge im gesamten Transithandel lag bei ungefähr 5 %. Am gesamten Verkaufsvolumen der Rohstoffhändler beträgt der Umsatz der Energieträger, namentlich vor allem Öl und Gas, mehr als 60 %, bei fast 20 % liegt der Anteil von Metallen, Steinen (auch Edelsteine) und Erden. Agrarprodukte, unter anderem auch Weizen aus der Ukraine und Russland, tragen fast 7 % zum Umsatz bei, Maschinen und Ausrüstungen gut 5 %. Die restlichen knapp 8 % des Kuchens bestehen aus chemisch-pharmazeutischen Erzeugnissen sowie einem Sammelsurium übriger Waren.

Der Transithandel ist nicht nur eine wichtige Stütze der Schweizer Wirtschaft, er trägt zudem auch signifikant zum Wachstum unserer Wirtschaftsleistung (BIP) bei. Seit 2005 belief sich der Wachstumsbeitrag des Transithandels auf 0,3 % jährlich. Man kann dies dahingehend interpretieren, dass das Wirtschaftswachstum der Schweiz ohne Transithandel jährlich um 0,3 Prozentpunkte tiefer ausgefallen wäre. Und dieser ausserordentliche Beitrag wird mit gerade mal knapp 10’000 Beschäftigten oder 0,2 % der Gesamtbeschäftigten erzielt. Was für eine extreme Wertschöpfung.

Begonnen hat alles im Jahr 1974 in Genf mit einem der «wichtigsten Handschläge der schweizerischen Wirtschaftsgeschichte» wie die Wochenzeitung «Die Zeit» schreibt. Marc Rich beantragte damals bei der Genfer Filiale der französischen Grossbank Bank Paribas einen Kredit in Höhe von 100 Millionen US-Dollar um iranisches Öl zu kaufen. Das Geschäft kam schliesslich zustande, in dem man ein altes Vertragswerk wiederbelebte, den Akkreditiv. Im Aussenhandel ist bei einem Akkreditivgeschäft der Importeur derjenige, der das Akkreditiv bei einer Bank eröffnet. 1974 war dies Marc Rich. Er verlangte dafür vom Exporteur (Iran) Dokumente als Nachweis, dass die Lieferung den vereinbarten Forderungen entspricht.

Reicht der Exporteur diese Dokumente bei seiner Bank ein und erfüllen diese die Vereinbarungen im Akkreditiv, leistet die Bank des Importeurs die Zahlung an den Exporteur. Voraussetzung ist, dass beim Kauf bereits ein Abnehmer feststeht. Solange der Handel nicht abgeschlossen ist, hat die Bank den Wert der Warenlieferung als Sicherheit. Marc Rich brauchte «nur» einen Abnehmer für das iranische Öl und keine besondere Bonität. Die Sicherheiten für seinen Bankkredit erfüllte die Lieferung bzw. der Warenwert selbst. Dies war wohl der Startschuss für Genf als Drehscheibe des internationalen Ölhandels. Ein Jahr später wickelten die USA ebenfalls über Genf eine mehrere Millionen Tonnen schwere Getreidelieferung an die damalige UdSSR (den Klassenfeind!) ab. So kamen die ersten grösseren amerikanischen Handelshäuser in die Schweiz. Genf stand im Ruf, ohne grosse Umschweife Arbeitsbewilligungen zu erteilen, hatte den Vorteil der Mehrsprachigkeit und war natürlich in Zeiten des kalten Kriegs für Geschäftspartner aus den damaligen Warschauer-Pakt-Staaten einfacher zu bereisen als Grossbritannien oder die USA.

Die Amerikaner wiederum nutzten die Irrwege via die Schweiz, um auch politisch heikle Lieferungen abwickeln zu können. Genf konnte auch noch mit niedrigen Steuern punkten – für uns Schweizer mag Genf eine Steuerhölle sein, im internationalen Vergleich ist es aber noch immer eine Oase – und es gab faktisch keine Kapitalverkehrskontrollen. Der Kanton Zug, wo der weltgrösste Rohstoffhändler Glencore angesiedelt ist, und andere Kantone kopierten das «Genfer Modell» mehr bzw. weniger erfolgreich. Spannend ist, dass die beiden Schweizer Grossbanken nicht die «first mover» waren, sondern neben Bank Paribas die ebenso französische Crédit Agricole sowie die niederländische ING. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kamen schliesslich auch die russischen Ölhändler Zug um Zug nach Genf. Und mit ihnen wohl auch die eine oder andere Milliarde der neuen Oligarchen. So erklärt sich, wieso heute mindestens drei Viertel des russischen Öls (und 40 % des weltweiten) über die Schweiz gehandelt wird, wie auf der Homepage der Swiss Trading and Shipping Association nachzulesen ist. Noch höher als bei Öl ist der Weltmarktanteil der hierzulande ansässigen Händler von Baumwolle (65 %) Getreide (60 %), Metallen (60 %), Kaffee (55 %) und Zucker (45 %). Alles zusammen ein Bombengeschäft mit den skizzierten Milliardenüberschüssen für die Schweiz und damit förderlich für unseren Wohlstand.

Da ist es nur recht, dass wir wenigstens ein Quäntchen dessen, was die russischen Oligarchen und das korrupte russische Regime Jahr für Jahr ihrem Volk stehlen, an Notleidende weiterleiten. Spannend wird es nun mit dem amerikanischen Embargo für russisches Öl, vor dem die EU-Politik aus bekannten Gründen, höhere Abhängigkeit, Opportunismus und Gefährdung der Wiederwahl (Macron in Frankreich z.B.) noch zurückschreckt. Sollten die Amerikaner Druck auf die Europäer ausüben, werden die wohl einknicken müssen, wenn sie nicht riskieren wollen, dass die Amerikaner auf die Passivseite im Ukraine Konflikt wechseln und den Europäern die Hauptverantwortung dafür abtreten.

Dann kommt es hierzulande wohl zu einem jähen Erwachen. Auch wenn sich Bundesrat Parmelin im Interview mit Radio SRF drehte und wendete und den intransparenten, verschwiegenen und auch etwas anrüchigen Rohstoffhandel als internationale Dienstleistung schönredete, wird die Schweiz wohl kaum darum herumkommen, den Handel mit russischem Öl auszusetzen – wenn die EU dem US-Embargo nachzieht. Die Frage für die Demonstranten in Berlin lautet: wie viel wollen wir für die Ukraine frieren? Und für die in Bern: müssten wir nicht noch einiges grosszügiger sein? (Raiffeisen/mc/pg)

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