Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Geile Story
Letzte Woche hat mich die Grippe umgeworfen und zwar richtig. Ich wurde wohl mitgerissen von der epidemischen Grippewelle, die derzeit in der Schweiz kursiert und durch Messungen des Bundesamtes für Gesundheit als solche bestätigt wurde. Per Definition ist eine Epidemie dann erreicht, wenn auf 100‘000 Einwohner knapp 70 Fälle mit Verdacht auf Grippe kommen. Seit der zweiten Januarwoche wird dieser Wert überschritten und die Intensität hat danach sogar zugenommen. Ende Monat lag die Anzahl der Verdachtsfälle dreimal höher als der Schwellenwert.
Bei solchen Grössenordnungen ist es nicht nur ein ganz dummer Zufall, wenn es einen erwischt, sondern es gibt eine nicht mehr zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit dafür. Wenn im eigenen Haushalt aber bereits der Junior danieder liegt, so wie sieben seiner gut zwanzig Klassenkameraden, dann wird die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung fast schon zur Sicherheit.
Noch vorletzte Woche waren wir putzmunter in Luzern unterwegs. Doch anderntags gegen Abend verschlechterte sich der Zustand meines jüngsten Sprosses und das Verdikt des Fieberthermometers war eindeutig. Ab ins Bett lautete die Devise und vor dem Einschlafen brachte der Sprössling nur noch folgendes über die Lippen: „Papa, ich glaube, die Chinesen sind schuld“. So ist das halt, wenn die ganze Welt im Bann eines neuen unbekannten Virus steht. Der macht dann auch nicht vor den Schweizer Schultoren halt, wenn er in den Medien omnipräsent ist. Da können wir noch so röcheln oder schniefen, eine Grippewelle ist einfach zu normal, selbst wenn sie zur Epidemie wird.
Das Coronavirus ist hingegen ein Gassenhauer und in jeder Munde, dank flächendeckender Präsenz in den Medien, die den Virus perfekt in Szene setzen. Wer aktuell auch noch so leidet, weil ihn die vulgäre Grippe im Griff hat, der fängt sich dazu auch noch einen dummen Spruch ein. Statt guter Besserung heisst es: „Eben erst aus China zurück?“ Wahrlich muss sich um den Spott nicht sorgen, wer den Schaden hat. Weder der arg gebeutelte Grippepatient in der Schweiz, noch die Chinesen, die jede Menge Spott und dumme Witze in den sozialen Medien über sich ergehen lassen müssen. Selbst im Kindermagazin „Spick“ kursieren Coronawitze wie der hier: „Wieso dürfte der Coronavirus nicht lang leben? Weil er „made in China“ ist!“. Und ich habe auch schon Leute hinter vorgehaltener Hand sagen gehört, das sei ja nur eine Frage der Zeit gewesen, dass so etwas passiert, so wie die Chinesen (hygienisch untereinander) lebten.
Für jeden etwas dabei
Etwas wie der Coronavirus ist für die Masse der Nichtbetroffenen eigentlich ein Glücksfall. Für die Gesellschaft etwa, denn es gibt endlich wieder neuen hochspannenden Gesprächsstoff. Das bringt die Menschen zusammen. Jeder kann locker mutmassen, ob die Seuche bald alle dahin raffen wird oder morgen schon niemand mehr darüber redet. Für die Medien ist der Virus geschäftsförderlich, denn Medien sind klassisch Nutzniesser von Katastrophen, da diese die Auflagen steigern. Für die Politik ist der Virus ein guter Anlass, sich als Retter, Schützer oder auch nur professioneller und achtsamer Beobachter zu inszenieren oder sich mit irrwitzigen Ideen oder besonders tiefgründiger Expertise öffentlich – vorzugsweise in den Medien – zu positionieren. Es hat also fast für jeden etwas dabei, so lange die Distanz zur Katastrophe gross genug ist.
Anders sieht es für die „wenigen“ Betroffenen aus. Wenn asiatisch aussehende Menschen plötzlich ausgegrenzt werden, ist das bedenklich. Genau so wenig macht die Welt vor Pauschalisierungen halt. Ob Vietnamese oder Thai spielt gar keine Rolle mehr, Fernost = China = potenzielles Trägerland lautet die einfache Formel. Der Coronavirus öffnet dem Rassismus sozusagen die Hintertüre. Die chinesischen Politiker sind ebenfalls wenig erbaut über die Krise. Sie können im Gegensatz zu ihren umtriebigen, aber nicht betroffenen weltweiten Kollegen medial kaum punkten. Welcher Politiker stellt schon gern Millionen seiner Mitbürger quasi unter Quarantäne und prahlt damit noch in der Presse?
Gift auch für die Wirtschaft?
Nüchtern betrachten die Märkte bisher das Geschehen rund um den Coronavirus, auch wenn sie vereinzelt zu Nervosität neigen und die chinesischen Börsen natürlich schon Federn lassen mussten. Die Börsianer haben den Tratsch nun hinter sich gelassen und orientieren sich an Fakten, so wie die Mediziner auch. Konkret sind das mangels mehr Wissen die Fallzahlen, welche am meisten über Heftigkeit, Breite und Tempo des Coronavirus sagen. Von den vorgestern weltweit bekannten 20.677 Infizierten sind 20.483 in China. In Deutschland sind 12 Fälle bekannt in der Schweiz gab es bisher zwar 50 Verdachtsfälle, aber noch kein einziger wurde bisher bestätigt. Und doch leiert fast jeder Radiosender hierzulande täglich zum Thema mit Titeln wie: „Müssen wir nun Angst haben?“ Oder: „Wie gefährlich wird es für die Schweiz?“ Ich hab die Antwort gern für sie: wir haben keine Ahnung und sollten uns daher nicht dazu äussern.
Bislang reden wir von einer lokalen, regionalen oder meinetwegen nationalen Epidemie, nicht aber von einer Pandemie. Eine Meinung, welche vorgestern auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vertrat. Bis Dienstag waren 425 Tote registriert worden. Das heisst etwa jeder 50. Fall endet(e) nach bisherigen Beobachtungen tödlich. So lange sich an diesen Relationen nicht allzu viel ändert, dürften auch die wirtschaftlichen Folgen übersehbar bleiben. Kritisch wird es, wenn die Fallzahlen stark zulegen und die Sterblichkeitsrate auch noch überdurchschnittlich wächst. Beunruhigend ist etwa, dass die Sterblichkeitsrate in der am meisten betroffenen Provinz Wuhan mit 4.9% mehr als doppelt so hoch ausfällt wie die gesamte Sterblichkeitsrate. Die Daten zeigen aber vor allem eins.
Man muss weiter beobachten, messen und wo möglich natürlich schützen. Wichtig wäre dabei natürlich, wenn man den Chinesen auch trauen kann, denn nur sie können die Zahlen liefern. Nur kursieren leider Vorwürfe, die chinesische Regierung hätte den Ausbruch des Coronavirus eigentlich vertuschen wollen, was natürlich keine tolle Vertrauensgrundlage bildet für die Faktenaufbereitung. Panik – vor allem auf der anderen Seite des Erdballs – ist aber gegenwärtig genauso verfehlt wie übertriebener Aktivismus. Denn wir wissen noch viel zu wenig, schon gar nichts über mögliche realwirtschaftliche Auswirkungen. Die Börse hat das vorerst gecheckt und die Panik abgelegt. Der Hype wird dennoch weitergehen. Das Thema ist ja immer noch ein Blockbuster. (Raiffeisen/mc/ps)