St. Gallen – Vor genau dreissig Jahren bin ich das erste Mal geflogen. Nicht in den Urlaub, sondern geschäftlich, denn 1988 war Fliegen noch Luxus, den sich nur wenige leisten konnten und privat schon gar nicht. Ich erinnere mich noch gut an diesen Flug nach Paris, was für ein Erlebnis „über den Wolken“ und dass er mehr als 800 Franken kostete. Heute liegt die günstigste Variante, nach Paris zu fliegen, bei etwa 170 Franken. Das Flugzeug ist mittlerweile zum Massenverkehrsmittel geworden und man steigt heute so selbstverständlich in ein Flugzeug wie unsere Eltern damals in den Zug.
Globalisierung und Digitalisierung killen Nachhaltigkeit
Dank der weltweiten Erosion der Flugpreise infolge des durch die Deregulierung eingeleiteten kannibalischen Preiskampfs am Himmel mutierte die Tourismusindustrie zu einer der grössten Wachstumsbranchen der Globalisierung. Heute ist fast jedes Ziel für jedermann erreichbar. Innert 15 Jahren verdoppelte sich so das weltweite Tourismusaufkommen gemessen an der Anzahl Reiseankünfte. Gemäss der UNWTO, der Weltorganisation für Tourismus wird sich das fulminante Wachstum der Branche fortsetzen. Je nach Region liegen die prognostizierten Wachstumsraten für die kommenden zehn Jahre zwischen 20% und 50%. Heute schon trägt die Tourismusindustrie weltweit etwa 10% zur Wirtschaftsleistung bei. In den klassischen Tourismusdestinationen liegt dieser Beitrag deutlich höher. In Griechenland etwa liegt er bei 20% und fast jeder vierte Arbeitnehmer verdient sein Brot dort im Tourismus. Dank Internet hat sich die Wachstumsdynamik der Branche nochmals beschleunigt. Online-Verkäufe von Reisen aller Art sind heute Standard. Die Onlineplattformen setzen mittlerweile 700 Milliarden Dollar um. In fünf Jahren sollen es fast 1 Billion (1‘000‘000‘000‘000!) Dollar sein. Das sind bombastische Zahlen, doch zwei Haken hat die Sache: der ökologische Fussabdruck ist bedenkenswert und die Überfüllung einzelner Destinationen tendiert Richtung Untragbarkeit.
Um letztere hautnah zu spüren, muss man nicht nach Rom oder Barcelona sondern nur mal im Sommer in Luzern die Kapellbrücke überqueren. Da wimmelt es nur so von vornehmlich Asiaten, aber auch anderen Touristen. Einheimische meiden dann meist ihre Stadt.
Opfer des eigenen Erfolgs
Vielleicht erinnern Sie sich noch an Kurt H. Illi, langjähriger Verkehrsdirektor der Stadt Luzern. Der hatte zweifellos Erfolg mit seinem: „Luzern is fantastic“. Er schlug für seine Destination selbst aus dem Brand der Kapellbrücke noch was heraus, indem er gut hundert internationale Journalisten zu deren Wiedereröffnung einlud, was Luzern hohe internationale Aufmerksamkeit sicherte. Für manche Luzerner ist die heute fast schon zu hoch, genauso wie für viele Einwohner Barcelonas (gut 9 Millionen Übernachtungsgäste) oder Roms (über 7 Millionen). Massentourismus mag für nicht wenige ein attraktives Geschäft sein, aber manche Destination droht Opfer des eigenen Erfolgs zu werden.
In vielen Tourismushochburgen macht sich Widerstand der Ortsansässigen bemerkbar und nicht nur das. Touristen werden nicht selten angepöbelt oder sogar offen angefeindet. Die Stimmung – wenn man so will – ist am Kippen. Führt man sich dann noch vor Augen, welche Masse die Tourismusbranche dereinst noch mobilisieren kann – Stichwort China oder Indien mit einem rasch wachsenden Mittelstand, für den Auslandsreisen zudem ein Statussymbol sind – dann ist das nicht weiter verwunderlich. Da wird dann bald einmal der letzte „Geheimtipp“ zur Massendestination.
Auch dazu leistet die Digitalisierung ihren Beitrag, denn im weltweiten Netz bleibt fast nichts mehr geheim, auch nicht eine noch so unbekannte Destination. Ein Selfie, eben mal gepostet, macht schnell die Runde und prompt ist es aus mit dem Geheimtipp. Schon ein Artikel im National Geographic genügte, um den Wirten im Äscher Wildkirchli im Alpstein (AI) den Garaus zu machen. Sie konnten und wollten den Ansturm nicht bewältigen.
Auf der Suche nach der Idylle
Wer heute im Urlaub Idylle, Ruhe und Authentizität sucht, wird immer schwerer fündig. Manche Bekannte von mir reisen deshalb an Destinationen nah oder fern, die kaum ein Mensch kennt. Um den Massen auszuweichen. Nur sind sie da nicht mehr lange allein, denn erst einmal entdeckt, strömen auch dort jedes Jahr mehr Touristen hin. Und dann ist meist schnell mal fertig mit der Idylle. So machen wir indirekt kaputt, was wir lieben, auch wenn es eigentlich nicht beabsichtigt ist. Wir wohnen etwa in einem Stadtviertel Portos, wo es „nur“ Einheimische und keine touristischen Attraktionen gibt, berichten von unseren positiven Erlebnissen und posten schöne Bilder im Internet und prompt beginnt der Wandel. Das Viertel mutiert und richtet sich mehr und mehr auf Touristen aus. Ein urchiger Tante Emma-Laden wird zum Souvenirshop, der Coiffeur zur Fast Food Bude, die Nahversorgung der Einheimischen leidet und schliesslich endet auch dieses Viertel touristisch. Das mag den einen oder anderen Einheimischen freuen, der damit Geld verdient, aber unter dem Strich schadet es der Destination und deren Einwohnern. Lässt die Qualität nach, dann schlägt das irgendwann auch auf die Quantität durch.
Der Preis muss den Markt räumen
Eigentlich hätte die ökonomische Theorie die Lösung des Problems. Sie heisst: Internalisierung der negativen externen Effekte. Die Regulierung der Nachfrage würde dann über den Preis erfolgen. Würden (wir) Touristen für sämtliche negativen Effekte zur Kasse gebeten, wären Fernreisen mit Sicherheit mal ein Luxusgut und kein Massenprodukt. Vor dreissig bis vierzig Jahren konnte die Masse in einem milden Winter kaum spontan auf eine exotische Destination ausweichen, anstatt im Pflotsch Ski zu fahren, weil unerschwinglich. Heute kann das auch Otto Normalverbraucher. Er bezahlt schliesslich weder den erhöhten Kohlendioxidausstoss noch die schleichende Zerstörung von Destinationen bzw. deren Wandel zum Schlechten. Ganz besonders schlecht ist die Ökobilanz von Kreuzfahrten. Schiffe sind die grössten Dreckschleudern überhaupt, denn sie fahren mit Schweröl (eigentlich ein Abfallprodukt des Raffinierens) und ihre Passagiere fallen wie Heuschrecken in Venedig, Dubrovnik oder wo auch immer ein, lassen wenig Geld aber viel Müll vor Ort und schon geht’s ab zur nächsten Destination. Auch City Hopping hat eine miese Ökobilanz.
Im Grunde wissen wir es ja, aber würden wir freiwillig auf etwas verzichten, was wir toll finden und uns leisten können? Nein, es sei denn, alle würden es tun (müssen). Und so sind wir Gefangene des berühmtesten Dilemmas der Spieltheorie und mitschuldig an unerwünschten Resultaten. Paris one way für 800 CHF? Ich wette, da kämen keine 16 Millionen mehr jährlich hin. Dumpingpreise sind schlechte Signale und schon gar nicht nachhaltig.
In eigener Sache: Leider werden sie für mindestens zwei Wochen keine Kolumne von mir lesen können, da ich nachhaltig Urlaub mache – im Spital. Nichts schlimmes, aber muss sein.
Martin Neff, Chefökonom