Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Letzte Woche erlitten die Börsen mal wieder einen Schwächeanfall, dessen Ursachen alles andere als eindeutig waren. China war zwar schnell als Unruheherd identifiziert und auch Griechenland brachte die Märkte wieder kurz in Wallung. Etwas enttäuschende Meldungen von der europäischen Konjunkturfront verstärkten die Unruhe zusätzlich. Aber dass sich all dies in einer solch heftigen Kurskorrektur niederschlagen würde, war von niemandem erwartet worden.
Wer glaubt, es gäbe vorerst nicht viel Neues aus Europa, sollte sich nicht allzu sicher wähnen. Mitte Woche muss der Deutsche Bundestag über das dritte Griechenlandpaket abstimmen. Das dürfte zwar durchgewinkt werden, aber es geht auch darum, wie viele Abweichler am Ende gezählt werden. Darüber hinaus könnte sich der Internationale Währungsfond dazu entschliessen, beim dritten griechischen Hilfspaket, nicht mehr mit zu wirken, was die Vertrauensbasis in die europäische Politik weiter schwächt. Griechenland selbst wird ohnehin kaum über Nacht aus den Schlagzeilen verschwinden und schon bald eine tiefe Rezession zu vermelden haben. Nichts Neues also im Westen. Doch das interessiert aktuell weniger.
Kein Wunderland China
Dafür sind fast alle Augen gegen Osten gerichtet. China hat sich in den letzten Wochen sukzessive in den Fokus der Märkte hochgearbeitet und selbst die Zinsängste in den USA bis auf weiteres in den Hintergrund treten lassen. Die einfache Formel, wonach China dem Weltwirtschaftswachstum jeweils entscheidende Impulse vermittelt, zieht nicht mehr. Denn im laufenden Jahr schwächelt die chinesische Wirtschaft dermassen stark, dass sich die Euphorie um das chinesische Wirtschaftswunder plötzlich gelegt hat. Das wurde auch Zeit. Dass namhafte Analysten öffentlich die Meinung vertraten, der chinesische Aktienmarkt werde seinen Höhenflug fortsetzen und die aktuellen Korrekturen seien günstige Gelegenheiten zum Einstieg, zeugt von einer oberflächlichen und sehr pauschalen Lagebeurteilung, die den tatsächlichen Verhältnissen in China immer weniger gerecht wird. Denn auch in China wachsen die Bäume nicht in den Himmel.
Viele Fragezeichen
Ob all dem Hype um China ging zusehend Bodenhaftung verloren. Wer sich die steile Kursentwicklung in Shenzhen im laufenden Jahr nochmals vor Augen führt, wird feststellen müssen, dass hier die Gesetze der Schwerkraft unbeachtet blieben, was unweigerlich zum Absturz führen musste. Dass nun die chinesische Regierung auch noch versucht, die Kurse zu manipulieren, macht deren Niveau nicht nachhaltiger. Ganz im Gegenteil: es zeigt nur die Nervosität, die in China herrscht und die Angst, dass Verluste an der Börse die Realwirtschaft in Mitleidenschaft ziehen könnten, in dem sie etwa auf die Konsumlust durchschlagen.
Während China lange Zeit die Rolle der Wachstumslokomotive entfalten konnte und globale Abschwünge zu lindern vermochte, wird es nun selbst zu einem Risiko für die Weltkonjunktur- etwa wenn sich herausstellen sollte, dass die bereits zurückgefahrenen Wachstumsziele der Regierung in immer weiterer Ferne rücken. Auch werden die Daten aus dem Reich der Mitte zusehends kritisch hinterfragt. Das sind unliebsame und kaum schon verdaute Neuigkeiten aus dem Osten. Bisher war China schlichtweg „gesetzt“. Noch vor einem Jahr jubelte die europäische Automobilindustrie über das rund laufende Chinageschäft. Die schwächelnde Konjunktur in Europa war damals für die Branche kein Thema, die Absatzzahlen in China kompensierten die rückläufige Nachfrage aus Europa schliesslich locker. Doch nun wird man sich auch der Risiken bewusst, die von China ausgehen, nachdem man sich zwei Dekaden lang eigentlich nur an den Chancen orientierte. Prompt sind die Exportzahlen der Automobilindustrie auch eingebrochen.
Wer spricht noch von BRIC?
BRIC (Brasilien, Russland, Indien und China) sind nicht mehr wie vor einigen Jahren in aller Munde. Denn BRIC schwächelt und ist längst keine homogene Erfolgsgeschichte mehr. Russland wird von einer heimtückischen Rezession heimgesucht und der Rubel ist im freien Fall. Brasilien ist nicht nur den Ruf des Ballzaubers los, sondern auch den des grossen südamerikanischen Tigers. Und Indien gibt genauso Rätsel auf, Transparenz sieht jedenfalls anders aus. Viele der hochstilisierten aufstrebenden Volkswirtschaften sind dazu ökologisch nicht über Zweifel erhaben, geschweige denn politisch. Das wird wohl auch immer mehr hinterfragt. China aber ist sicherlich die aktuell grösste Unbekannte für die Weltwirtschaft, denn es ist inzwischen ein ziemlicher Klumpen für die Weltwirtschaft geworden. Schön für die Welt, wenn China boomt, aber wehe, wenn es schwächelt.
China ist heute in der Rolle, welche die amerikanische Wirtschaft für die Welt noch vor wenigen Dekaden spielte. Die entscheidende Frage ist aber nicht die nach dem Gewicht der chinesischen Wirtschaft, sondern die nach der Zuverlässigkeit der chinesischen Regierung. Und da sind Zweifel angebracht. Für einmal stellen die Finanzmärkte eine gewisse Sensibilität unter Beweis und das ist gut so. Nur nicht gerade gut für die Kurse. (Raiffeisen/mc)
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen