Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Knapp drei Wochen nach dem Flugzeugabsturz einer Maschine der deutschen Fluggesellschaft Germanwings haben sich die Schlagzeilen um diesen tragischen Unfall langsam totgelaufen. Es kehrt wieder Normalität ein, so auch im Joseph-König- Gymnasium in Haltern, das 18 Schulangehörige beim Unglück verlor und eben wieder den Schulbetrieb aufgenommen hat. Ausser den Direktbetroffenen, die Angehörige, Freunde oder Bekannte verloren haben, beschäftigt sich das Gros der Menschen bereits wieder mit den neueren Schlagzeilen. Der Alltag hat uns wieder. Der schwarze Schwan gerät wieder in Vergessenheit.
Es ist dennoch interessant, noch einmal zurück zu fühlen. Allein die Vorstellung, dass ein verzweifelter Mann keinen Ausweg mehr aus seiner Misere sieht und in Kauf nimmt oder zumindest ausblendet, dass er bei seinem Suizid 149 weitere Menschen in den Tod reissen wird, macht einen baff. Mit sowas rechnet man schlichtweg nicht, das gehört ins Reich des Unmöglichen, wo wir Menschen gern alles hineindrängen, was uns Angst macht oder unfassbar ist für uns. Unfassbar wie der schwarze Schwan für uns Europäer, bevor Australien entdeckt wurde. Und deshalb reagieren wir auch immer gleich.
Wir relativieren und gehen sofort auf die Symptome los. Fliegen sei nach wie vor die statistisch sicherste Methode der Fortbewegung. Im Strassenverkehr verunglückten deutlich mehr Personen als auf Flugreisen, wurde rasch wieder einmal in Erinnerung gerufen. Die „Zweipersonenregel“ war die naheliegende Reaktion der Fluggesellschaften um das offensichtlichste Symptom zu bekämpfen. Ab sofort müssen stets zwei Personen im Cockpit anwesend sein. Denn eigentlich war der Kamikazeflug des depressiven Germanwings-Co-Piloten nur möglich geworden, weil eine nach den Attentaten des 11.9.2001 neuerlassene Sicherheitsbestimmung die Verriegelung des Cockpits von innen zum Standard erklärt hatte. Und so konnte der lebensmüde Co-Pilot sein verrücktes Vorhaben eiskalt durchziehen.
Nichts gegen die Zweipersonenregel, aber was wir uns eigentlich angesichts des tragischen Unglücks vor Augen führen sollten, ist die Tatsache, dass es die 100%ige Sicherheit nirgendwo gibt. Der Mensch ist nun mal nicht unfehlbar bzw. Irren ist menschlich, aber auch das Verdrängen.
Wie an der Börse
So sicher das Flugzeug als Verkehrsmittel auch sein mag, Unfälle können nie ganz ausgeschlossen werden. Ein Passagier, der ein Flugzeug besteigt, weiss, dass deutlich über die Hälfte aller Flugunfälle auf Pilotenfehler oder sonstige menschliche Fehler zurückzuführen sind und nur knapp ein Fünftel auf technisches Versagen. Etwas mehr als zehn Prozent der Abstürze sind wetterbedingt und weitere zehn Prozent beruhen auf Sabotage (inklusive Entführungen und Bombenanschläge). Damit geht jeder Passagier gleich ein paar Wetten ein, wenn er fliegt. Dass das Wetter keine Kapriolen schlägt zum Beispiel oder die Maschine technisch einwandfrei funktioniert und gut gewartet ist, oder dass keine Terroristen oder Sprengsätze an Bord sind, vor allem aber, dass das Flugpersonal „gesund und munter“ ist. Nur ist sich dessen wohl kaum jemand bewusst, wenn er sich an Bord eines Flugzeuges begibt und von den wenigen, die daran denken, wird es verdrängt. Nur manchmal – wie im Fall des Selbstmordfluges – fällt die Verdrängung eben schwer. Plötzlich wird man sich des Risikos wieder bewusst. Nicht dass Flugpassagiere Spekulanten wären, aber es setzt eigentlich jeder darauf, dass er heil ans Ziel ankommt, trotz allen Wissens um Wahrscheinlichkeiten und Widerspenstigkeiten – genauso wie die Akteure an den Finanzmärkten.
Restrisiko
Dort hat sich nun auch schon länger kein Absturz mehr ereignet und das ist erfreulich aber gefährlich zugleich. Die meisten europäischen Börsen liegen im laufenden Jahr bereits um über 20% (!) im Plus. In Asien war der Jahresauftakt stark und selbst in der wechselkursgeschockten Schweiz liegt der Marktindex knapp 5% (in CHF) über dem Jahresanfangswert. In Euro gerechnet liegt die Performance der Schweizer Börse bei über 20%. Seit dem Frühjahr 2009 war an den meisten Börsen kein grösserer Unfall mehr zu verzeichnen. Turbulenzen gab es zwar zuhauf, aber keinen Absturz, wenn man einmal vom Luftloch der Euroschuldenkrise im Sommer 2011 absieht. Und das ist auch schon wieder ein Weilchen her.
Die Börsenüberflieger befinden sich auf einem scheinbar endlosen Flug und je länger dieser dauert, desto weniger rechnen die Teilnehmer an der Börsenparty auch mit einem Absturz. So alternativlos Aktien auch immer sein mögen, gerade in Zeiten magerer oder sogar negativer Renditen, so risikobehaftet sind sie. Jeder der heute im Markt engagiert ist, muss wissen, dass er eine Wette eingeht, die ein gehöriges Risiko birgt. Und dass dieses Risiko eher zunimmt als ab. Denn dass länger schon kein schwarzer Schwan mehr gesichtet wurde, muss nicht heissen, dass der ausgestorben ist. Es kann auch sein, dass seine Rückkehr unmittelbar bevorsteht. In der Höhe lauert das Risiko. Das muss heute jeder wissen, der an der Börse wettet.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen