Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Einverstanden, der Titel der heutigen Kolumne ist auf den ersten Blick vielleicht etwas verwirrend, aber in der Wirtschaft dreht sich nun mal alles um Zahlen. Das Gute an Zahlen ist, dass sie keine Fragen offen lassen, was mehr und was weniger ist. Drei sind mehr als zwei, eindeutig, was gibt es da noch zu diskutieren? Aber ist mehr auch wirklich besser, oder zumindest gut? Mittlerweile ist das gar nicht mehr immer so eindeutig, zumindest seit der Finanzkrise.
Wenn eine Volkswirtschaft die quantitativen Wachstumsvorgaben übertrifft, dann spricht man gewöhnlich von „guten Wirtschaftsdaten“. Schlechte Zahlen von der Wachstumsfront sind dagegen meist mit einem negativen Vorzeichen versehen und werden von den Märkten entsprechend skeptisch aufgenommen. Im Kontext des Wirtschaftswachstums ist mehr also sicher mal gut. Doch so zuverlässig Zahlen als Gradmesser auch sein mögen, ihre Interpretation ist gar nicht immer so eindeutig und wandelt mit den Jahren. Vor nicht allzu langer Zeit hätte man sich Inflationsraten wie die aktuellen herbeigewünscht, heute werden Inflationsraten unter 1% aber eher skeptisch betrachtet. Zinsen unter 1% wären vor wenigen Jahren gar als Signal höchster Not interpretiert worden. Damals hätte man sich gefragt, ob eine Wirtschaft überhaupt so angeschlagen sein kann, dass es eine derart radikale Wiederbelebungsübung braucht? Und heute sind sich – zumindest alle Geldhüter – einig, dass die Nullzinsära ein Ding der Notwendigkeit ist. Zahlen sind demnach auch relativ geworden, genauso wie ihre Interpretation. Ausser beim Wachstum, denn davon wollen wir alle mehr.
Doch stossen wir nicht an Grenzen des Wachstums, zumindest in vielen reifen Volkswirtschaften, zu denen auch die Schweiz gehört? Und zwar nicht, weil uns die Natur diese aufzeigt, wie das vom Club of Rome gesponserte und viel zitierte Werk „The Limits of Growth“ 1972 kolportierte, sondern weil wir nahezu gesättigt sind? Davon wollen die meisten Wachstumsgläubigen nichts wissen. Natürlich würden die meisten gern ein teureres Auto fahren, ein grösseres Haus bewohnen, mehr Urlaub machen und vieles mehr. Bedürfnisse wird es immer geben, das ist aber nicht die Frage, sondern es stellt sich die Frage nach dem Nutzen. Die Haushaltstheorie unterstellt in ihrem Nutzenkonzept, dass wir nur dann konsumieren, wenn wir uns vom Konsum einen positiven Nutzen versprechen. Das kann auf Grund des Wohlbefindens sein, aus purer Freude am Konsum oder auch nach gestilltem Heisshunger. Darüber hinaus – so die Theorie – konsumieren wir nur so lange mehr, wie der Grenznutzen positiv Der Grenznutzen ist der zusätzliche Nutzen, den eine weitere Einheit eines Konsumgutes stiftet.
Zur Veranschaulichung wird am besten ans Weintrinken erinnert. Mit jedem Glas Wein, das wir konsumieren, nimmt der Grenznutzen ab. Optimal wäre, so viel zu trinken, bis der Grenznutzen bei null liegt. Da spricht der Ökonom vom Nutzenoptimum. Unschwer sich vorzustellen, was passiert, wenn diese Grenze überschritten wird. Der Ökonom spricht jetzt von negativem Grenznutzen, was angesichts eines Alkoholrausches auch als Schaden aufgefasst werden darf. In der idealisierten Welt der aggregierten Volkswirtschaft werden wir Konsumenten, die sogenannten privaten Haushalte, fast nie negatives Grenznutzenterrain betreten. Wir optimieren im Gegenteil den Nutzen eines riesigen Bündels an Gütern und Dienstleistungen, in dem wir von jedem so viel konsumieren, bis der Grenznutzen nicht mehr zunimmt. Auch weil wir vollständig informiert sind und genau das tun, was die Theorie von uns erwartet.
Nimmersatt?
In einem solchen Konzept ist Sättigung zwar kein Fremdwort, aber wenn das Einkommen steigt (Wachstum), dann werden wir auch stets neue oder höherwertige Güter oder Dienste konsumieren, von denen wir vor Jahren nicht einmal wussten, geschweige denn, dass sie uns einmal Nutzen stiften würden. Die Wirtschaft generiert in diesem Konzept also die Bedürfnisse im Sinne von Angebot schafft Nachfrage. Das wird in der neoliberalen Gedankenwelt ewig so weiter gehen. Ein Blick auf die demographische Entwicklung zeigt aber, dass es anders kommen wird und das ist eine Prognose mit höchster Treffsicherheit. In den meisten hochentwickelten Volkswirtschaften ist der Alterungsprozess weit fortgeschritten und die Konsumneigung nimmt mit zunehmenden Alter ab. Japan führt vor Augen, dass dies eine auch heute noch gültige Hypothese ist. Dort brummt der Konsummotor schon lange flau, auch bei guter Konsumentenstimmung. Migration, gerade von jüngeren Erwerbstätigen kann diese demographische Falle aufschieben, aber kaum stoppen. Zudem nimmt migrationsbedingt das Pro- Kopf-Wachstum weniger zu als das gesamte Bruttosozialprodukt.
Das Wachstum wird schliesslich auf mehr Köpfe verteilt, auch hierzulande. Wenn am Ende die Gesundheits- und Sozialkosten, Pflegeheime für Betagte oder die öffentliche Verwaltung immer höhere Beiträge zum bescheidener werdenden Wachstum beisteuern, kann uns das nicht recht sein und auch den Propagandisten des Wachstums nicht. Es wird Zeit, nicht die Wachstumsrate zur Schicksalsfrage hochzustilisieren, sondern die Qualität unseres Wachstums mal genauer zu inspizieren. Ich bin mir sicher, dass wir Grenzen des Wachstums finden und anerkennen würden und sogar jede Menge negativen Grenznutzen. Nicht Sättigung ist das Problem der Industrieländer in der Wachstumsdiskussion, sondern Übersättigung oder netter ausgedrückt: Konsummüdigkeit. Von wegen Nimmersatt.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen