Von Martin Neff – Chefökonom Raiffeisen Genossenschaft
Es läuft nicht mehr so rund an der Börse wie gewohnt, möchte man fast sagen. Seit der Finanzkrise sorgten die Notenhüter dafür, dass eigentlich jeder mit wenig Geld viel Geld verdienen konnte. Wenn er nur investiert war. Man musste gar nicht viel machen, selbst ein indexnahes Produkt liess die Gewinne nur so sprudeln. Eurokrise, Syrienkrieg, selbst die Pandemie konnten den einzigartigen Lauf der Finanzmärkte nicht stoppen.
Und noch sehr gerne hätten die Spekulanten auch das Wiedererwachen der Weltwirtschaft nach – so wollen wir hoffen – der Pandemie mit allen damit verbunden Engpässen der weltweiten Lieferketten schnell hinter sich gelassen. Auch der Ukrainekrieg liess die Gambler nur kurz erzittern. Aber jetzt ist Sand im Getriebe. Und das «nur» deshalb, weil alle zittern, dass die Zeit des Gratisgeldes sich dem Ende zuneigt. Eine der wenigen, dafür umso gewichtigeren Notenbanken macht endlich ernst. Da in den USA die Inflation aus dem Ruder zu laufen droht, besser: aus dem Ruder gelaufen ist, blieb dem Federal Reserve Board nach langem Hadern und Zögern keine andere Wahl mehr, als die geldpolitischen Zügel zu straffen. Das hatte schon im Vorfeld tatsächlicher Zinserhöhungen für viel Nervosität gesorgt und erste Korrekturen der Kurse ausgelöst, vor allem aber auch sehr starke Zinsanstiege am langen Ende der Zinskurve. Doch als die amerikanischen Notenbanker dann ernst machten, war es an den Börsen nix mit «eingepreist». Die Kurskorrekturen setzten sich fort. Die Volatilität, der Gradmesser der Nervosität der Finanzmarktakteure, ist nun wieder auf einem Niveau, das die nackten ökonomischen Tatsachen sehr wahrscheinlich sehr viel besser widerspiegelt als die trotz aller Unbill schon fast zur Tradition gewordene Unbekümmertheit der jüngsten Vergangenheit an den Märkten.
Wann immer ich auch in den letzten Jahren mit Kunden oder Bekannten sprach, tauchte stets irgendwann die Frage auf, ob die Nullzinspolitik noch weiter anhalten wird. Viele äusserten Bedenken, denn dem «Normalbürger» kam das Ganze ohnehin nicht ganz koscher vor. Und nun, da endlich ein Ende dieses unsäglichen Regimes in die Nähe rückt, machen sich alle – sorry für den Ausdruck – in die Hose. Zehnjährige Hypotheken kosten in der Schweiz nun wieder deutlich mehr als zwei Prozent und wahrscheinlich werden sie auch bald die drei-Prozent-Hürde nehmen. Aber hallo, was ist das in einem längerfristigen Vergleich? Nichts bis wenig! Selbst alle Bedenkenträger der unsäglichen Geldpolitik der letzten Dekaden kriegen plötzlich kalte Füsse. Bravo liebe Geldhüter, ihr habt uns alle angefixt, dermassen, dass alle nur noch eines fürchten: steigende Zinsen. Dabei wäre es höchste Zeit, auch in Europa, für Zinserhöhungen, zumindest mal für eine Normalisierung der monetären Rahmenbedingungen. Weg mit dem Negativzins, der allen Beteuerungen der Nationalbank zum Trotz nichts gebracht hat, ausser Blasen zu entfachen und einen schleichenden Umverteilungsprozess zu initiieren. Aktuell ist unsere Zentralbank aber mit Anderem beschäftigt: der Nachfolgeregelung des Präsidiums (oder Neubesetzung der Direktion), dem exorbitanten Verlust im ersten Quartal und der scheuen Beobachtung der realwirtschaftlichen Konditionen, sprich höhere Inflation auch hierzulande, und einer Wirtschaft, die am Tropf der internationalen Verwerfungen hängt. China sorgt für eine erneute Beeinträchtigung der internationalen Lieferketten und in Europa sowie den USA droht vielleicht sogar eine Rezession.
Wir sind zweifellos in einer Situation, in der das Allerweltheilmittel des billigen Geldes nicht mehr greifen könnte. Und doch drohen die Jammerlappen an Wallstreet und Co. bereits mit einem Ausverkauf und hoffen darauf, dass das perverse Niedrigzinsumfeld weiter «gepflegt» wird. Man kann nur hoffen, dass sich in der jetzigen Konstellation galoppierender Preise und Vollbeschäftigung die Vernunft durchsetzt und nicht die Finanzmärkte – einmal mehr und wie eigentlich schon immer zuletzt – den Geldhütern den Kurs diktieren, indem sie jammern und jammern und mit dem Ausverkauf drohen. Natürlich lassen sich steigende Öl- oder Gaspreise mit Zinserhöhungen nicht wirksam bekämpfen. Aber sehr wohl doch die Dynamik, mit welcher sich diese Preisschocks in die Realwirtschaft hineinfressen. Noch herrscht Zurückhaltung, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die krass gestiegenen Produzentenpreise auf die Verbraucherpreise auswirken und überwälzt werden. Will man wirklich abwarten, bevor man aktiv wird? In den USA beginnt bereits eine Lohn-Preis-Spirale und auch in Europa tut die Politik alles Mögliche und Unmögliche, die Kaufkraft der Wähler aufrecht zu erhalten. Auch da droht ein heisser Lohnherbst. Also liebe Notenbanker: Tut einmal was für die Realwirtschaft und löst euch endlich aus der Versklavung der Jammerlappen an den Finanzmärkten. Die haben genug verdient in den letzten Jahren, nur kennt Gier leider keine Grenzen: Es sei denn, ihr erfüllt jetzt euren eigentlichen Auftrag und stoppt den Wahnsinn, nur mit Geld und nicht mit Arbeit «reich» zu werden.