Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Wachstum scheint auch heute noch das Elixier, aus dem die Wirtschaft einzig Kraft schöpft. Schon fast verzweifelt und doch alles andere als erfolgreich, versucht die Politik in den hochentwickelten Industrienationen, die von der Finanzkrise arg angeschlagenen Volkswirtschaften wenigstens wieder auf den Potenzialwachstumspfad zurückzuführen. Denn verhaltene Wachstumsprognosen verheissen selten Gutes und reduzieren die Wiederwahlchancen der Exekutive.
Und die Rezession ist in den Köpfen der Politiker noch immer die Geissel der Volkswirtschaften, vor allem weil dann die Arbeitslosigkeit steigt. Wachstum steht daher auf dem wirtschaftspolitischen Zielkatalog meist ganz oben, neben Vollbeschäftigung, Preisniveaustabilität, einem aussenwirtschaftlichen Gleichgewicht und einer ausgewogenen Einkommens- und Vermögensverteilung. Dieser Zielkatalog ist in der Volkswirtschaftslehre als das magische Fünfeck der Wirtschaftspolitik bekannt.
Als der Club of Rome in den Achtzigerjahren die Grenzen des quantitativen Wachstums propagierte, sorgte dies für ziemliche Aufregung in der Zunft der Ökonomen und der Politik. Zwar bestehen in der Wirtschaftstheorie längst schon Konzepte, die Umweltbeanspruchung in Kosten zu übersetzen, die sogenannte Internalisierung. Allerdings werden diese nur sehr zaghaft und schon gar nicht flächendeckend angewendet. Verschmutzungsrechte etwa sind ein Beispiel dafür, aber in der Realität sind diese Konzepte – beispielsweise die CO2-Zertifikate – recht umstritten. Das Verursacherprinzip, nach dem auch die Kosten der Umweltbeanspruchung beglichen werden, ist zwar ein in der Theorie unumstrittenes Konzept, aber auch nicht mehr. Kostenwahrheit – sprich die Internalisierung negativer externer Effekte – würde letztendlich die heutige internationale Arbeitsteilung in Frage stellen und damit die Globalisierung, die neben den hochstilisierten Vorteilen halt auch Ökodumping generiert.
Die Schweiz soll weiter wachsen…
Auch hierzulande beschäftigt sich die Politik intensiv mit Wachstumsfragen. Jüngst erst ist der Bericht des Bundesrates mit dem Titel „Neue Wachstumspolitik 2016 – 2019“ erschienen. In den Medien ging er allerdings im Trubel rund um den Brexit fast vollends unter. Nichtsdestoweniger besteht aus der Sicht des Bundesrates wachstumspolitischer Handlungsbedarf. Ob und warum Wachstum nötig ist, wird gar nicht hinterfragt.
Es herrscht offenbar Konsens, dass quantitatives Wachstum unverzichtbar ist, wobei immerhin auch ein Augenmerk auf qualitative Wachstumsaspekte geworfen wird. Unsere Exekutive ortet drei Säulen, auf welche die neue Wachstumspolitik abgestützt werden soll. Neben der Stärkung der Arbeitsproduktivität und der Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der Volkswirtschaft sollen auch die Ressourcen produktiver genutzt werden – letzteres, um die negativen Nebenwirkungen des (quantitativen) Wirtschaftswachstums zu mildern. Mit insgesamt vierzehn Massnahmen sollen diese drei Ziele materialisiert werden. Die sollen hier im Einzelnen aber nicht alle diskutiert werden, sonst verliert man schnell einmal die Übersicht. Der Fokus der weiteren Ausführungen liegt auf den Ansätzen zur Milderung der negativen Nebenwirkungen (externe Effekte) des Wirtschaftswachstums.
…aber auch qualitativ
Die Landesregierung kommt zum hehren Schluss, dass auch die Qualität des Wachstums auf die Waagschale gelegt werden muss. Leider ist diese Qualität schwer messbar und der Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie scheint nach wie vor nur schwer überbrückbar. Es wird anerkannt, dass das BIP allein nicht zur Messung unseres Wohlstandes und dessen Veränderung herangezogen werden kann, die möglichen Ansätze zur Steigerung des qualitativen Wachstums bleiben aber eher vage. Neben dem zweiten Massnahmenpaket der Energiestrategie 2050 und der Klimagesetzgebung 2020 möchte der Bundesrat unter
anderem die Wohnungsknappheit durch eine „bessere“ Regulierung des Wohnungsmarktes mildern und die Verkehrsinfrastrukturen besser nutzen. Besser ist der Komparativ von gut. Es mag spitzfindig sein, aber wer von besserer Regulierung spricht, geht davon aus, dass die bisherige Regulierung zumindest schon mal gut ist. Konkretes zu den Themen Verkehr und Wohnungsknappheit findet sich im bundesrätlichen Bericht aber nicht.
Statt von Überlastung der Verkehrsinfrastruktur ist von zunehmenden Herausforderungen des heutigen Verkehrssystems die Rede, trotz der Verachtfachung der Staustunden innert 20 Jahren. Und die Umnutzung von Pannenstreifen, Überholverbote für Lastkraftwagen, Geschwindigkeitsreduktionen im Überlastungsfall und bessere Stauinformationen sind doch eher kosmetischer Natur und beseitigen die Ursachen kaum. Denn Mobilitätsansprüche und vor allem die schiere Masse – sprich Bevölkerungszahl – steigen nun mal viel stärker als die Infrastruktur ausgebaut wird. Der Verdrängung einkommensschwacher Haushalte in die Peripherie der Zentren möchte der Bundesrat mit Studien zum Wohnungsmarkt begegnen und daraus mittels Auslegeordnung den Handlungsbedarf ableiten. Keine Eile sozusagen, dabei ist dieses Problem schon seit Dekaden bekannt. Erschwinglicher Wohnraum muss heute schon subventioniert werden und es ist absehbar, dass der soziale Wohnungsbau in Zukunft einen grösseren Stellenwert einnehmen muss.
Zumal die Zersiedlung der Bevölkerung zunehmend Sorge bereitet und die Verdichtung nur harzig voranschreitet – vor allem im Bestand. Wo viel zu viel Gegenwehr besteht. Da werden auch die beauftragten Studien kaum Lösungen finden, es sei denn man zont zusätzliches Land ein, schöpft die Mehrwerte ab und subventioniert damit erschwingliche Wohnungen. Oder man stellt das Wachstum auf null.
Teilen statt Wachsen
Gerade die Schweiz wäre ein Land, das auf Grund seines Wohlstands prädestiniert scheint, die Grenzen des Wachstums auszuloten und auf Qualität zu setzen, anstatt das Wachstum mit höheren Schulden zu erkaufen. Kaum ein Land in Europa „erfreut“ sich eines solchen Zustroms von (arbeitswilligen) Menschen und ist gleichzeitig räumlich so limitiert, dass Dichtestress selbst hier zu einem Begriff wurde. Obwohl wir alle spüren, dass es zu Kosten der Überfüllung kommt und uns das ärgert, ist die Angst vor Wohlstandseinbussen noch immer grösser als die vor den Nebenwirkungen des quantitativen Wachstums. Es wäre Zeit für einen grossen Wurf in der Wachstumsdiskussion und nicht für die routinemässige Fortschreibung der Thematik mit jeweils leichten Modifikationen. Share Economy vom Feinsten zum Beispiel, doch das Wort Kokonsum findet sich nicht im Wachstumsbericht. Wer aber auf quantitatives Wachstum setzt, muss wenigstens eingestehen, dass das nur mit einem massiven (und klugen) Ausbau der Infrastruktur möglich sein wird und mit teuren Kompensationen für die nicht zu vermeidenden negativen Nebenwirkungen. Bäume wachsen bekanntlich auch nicht in den Himmel.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen