Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Menschlich und demokratisch?

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Menschlich und demokratisch?
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

Seit die Datenschutz-Grundverordnung der EU (DSGVO) hierzulande in Kraft ist, läuft eine in vieler Hinsicht seltsame Diskussion. Es scheiden sich nämlich die Geister darüber, ob in Schulen Klassenchats via Whatsapp eingestellt werden müssen. In Zürich ist der Datenschutzbeauftragte dieser Meinung, seine Kollegen im Jura oder Neuenburg sehen das anders. Schon das allein gibt zu denken. Im Zuge der Einführung der DSVGO hatte Whatsapp entschieden, die Nutzungsbedingungen anzupassen und die App erst ab 16 Jahren zuzulassen. Wenn die Eltern den Kids die Nutzung erlauben, kann auch ein jüngerer Teenager die App weiter gebrauchen. Trotzdem ärgert sich jetzt die halbe Schweiz über ein mögliches Whatsapp-Verbot für jüngere Teenager. Eine seltsame Diskussion.

Zunächst sei festgehalten, dass es keine aufschreienden Teenager geben wird, selbst wenn die Klassenchats schweizweit eingestellt werden sollten. Denn die jungen Leute werden sich um die Verordnung keinen Deut kümmern und weiter wie gewohnt chatten, nur eben nicht mehr mit der Schule. Whatsapp für Unter-Sechzehnjährige zu verbieten, ist schlichtweg eine „Mission impossible“, zu viele „Kinder“ nutzen diese beliebteste App schon. Denen das einfach abzustellen, würde Familienkrieg bedeuten. Und welche Eltern sind dazu schon bereit?

Vorbeidiskutiert
Was ich an der Diskussion beunruhigend finde, ist, dass grundsätzliche Fragen gar nicht aufkommen. Und das, obwohl dieser Fall hervorragend belegt, in welch intime und private Bereiche das Smartphone, sprich die Digitalisierung schon Einzug genommen hat. Sie beeinflusst nicht nur den Alltag und die Art wie wir miteinander kommunizieren, sondern auch wie wir generell miteinander umgehen, so auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kind bzw. Schule und Kind. Doch das interessiert in der Diskussion offenbar keinen; genauso wenig wie hinterfragt wird, ob es nicht andere (wohl bekannte und jahrhundertelang erprobte) Wege des Austauschs gibt. Und schon gar nicht interessiert, ob eigentlich alle „Kinder“ für die Schule ein Smartphone besitzen müssen. Was, wenn sich das jemand nicht leisten kann oder will? Und ganz grundsätzlich fragt man sich, ob der Lehrbetrieb ohne Smartphone überhaupt noch funktioniert.

Sorry ey…
In Klassenchats wird nicht nur belangloses Zeug gequatscht, sondern es können z.B. fachliche Fragen zu Aufgaben gestellt werden oder Diskussionen darüber geführt, wohin der Schulausflug geht. Auch Verschiebungen von Schulstunden bzw. Absenzen werden dort effizient ausgetauscht. Klingt praktisch, doch mit der Effizienz gehen Empathie und Gewissen verloren. „Habe Kopfschmerzen, kann heute nicht am Unterricht teilnehmen“ ist jedenfalls schnell vom Mobiltelefon geschickt und schon winkt ein sonniger Tag, wie mein Ältester (damals Oberstufe) mal ganz unumwunden erklärte. Er war damals gerade mal knapp 17 Jahre alt. Von der Schule hätten wir nie erfahren, ob der Bengel blau machte. Das ist schwer zu verdauen für geburtenstarke Jahrgänge, zu denen ich gehöre.

Ich würde es selbst für über 18-Jährige begrüssen, wenn sie ihre Absenzen telefonisch vorankündigen und schriftlich offiziell entschuldigen müssten. Das bringt schliesslich auch Synergien von Schulstoff und Digitalisierung, auf die die meisten Schulen nicht mehr verzichtet wollen. Etwa die Förderung der verkümmernden Sprachkompetenz und die unmittelbare Übernahme von Verantwortung für sein Tun oder Lassen. Sich persönlich zu entschuldigen, ist schliesslich gelebte Sozialkompetenz. Dass der Akku nicht geladen war oder die Verbindung schlecht, sind dagegen faule Ausreden, die leider mehr und mehr im Alltag Einzug halten, so wie Unpünktlichkeit, die dank Smartphone nur noch ein Kavaliersdelikt ist. Ein kurzes „sorry ey“ und schon ist man im Reinen.

Meinetwegen könnten sich die Kids ja auch per Mail statt Brief vom Unterricht abmelden. Das ist immer noch bewusster als locker en passant auf dem Weg vom Schlafzimmer zum Kühlschrank vom Smartphone. So einfach darf die Vernachlässigung der Schulpflicht, die ja nach wie vor besteht, nicht gemacht werden. Eltern stünden da in der Verantwortung, sagen uns Silicon Valley und Schweizer Schulen. Sie sollen den Kids doch ganz einfach den richtigen Umgang mit Whatsapp und Co. beibringen. Wie bitte?

Innovation kennt keine Verantwortung?
Dass die Digitalisierung nicht nur die Schule, sondern unsere ganze Gesellschaft und deren Werte umkrempelt, ist keine Neuigkeit, aber dass wir uns das so einfach bieten lassen leider auch. Ich bin skeptischer als auch schon, was die Einführung neuer Technologien betrifft. Denn heute geht das alles viel zu schnell. Wir werden zu Testsubjekten, die den Herstellern die Kindheitskrankheiten auszutreiben helfen und merken gar nicht, wie wir dabei noch versklavt werden, in dem wir uns vollends outen – sprich selbst intime Details über uns preisgeben. Dabei halten neue Produkte zwar oft, was sie versprachen, aber vernachlässigen die Nebenwirkungen, die den eigentlichen Fortschritt teils wieder rückgängig machen. So lehrt die Geschichte der grossen Erfindungen, selbst derer, die die Menschheit prägten, dass man auch negative externe Effekte ins Auge fassen muss. Das Automobil hat uns zweifellos die Mobilität geschenkt, auf die man heute nicht mehr verzichten kann oder will, aber zu einem Preis, den die Industrie nie vollends bezahlte.

Mehr Tote und Verletzte auf den Strassen, Luftverschmutzung zum Beispiel oder der Betrug von Kunde und Gesetzgeber durch das Vorspielen falscher Abgaswerte wurden der Öffentlichkeit belastet, während dessen die Anbieter Rekordgewinne schrieben. Was, wenn sich in 200 Jahren herausstellt, dass der Individualverkehr das Klima letztlich kippte, so dass unser Planet schliesslich unbewohnbar wurde? Eben! Und nicht vergessen: die Autohersteller sind auch noch too big to fail.

To big to fail 3.0
Die Digitalisierungsbranche befindet sich im gleichen Fahrwasser. Dank Ausschaltung des Wettbewerbs erwirtschaften die grossen Internetfirmen unverschämte Profite, die vollständig privatisiert werden. Für Nebenwirkungen oder Schäden muss hingegen die Gesellschaft aufkommen. Oder die Eltern halt für ihre digital natives, mit denen sie bald keinen normalen Satz mehr wechseln können, weil die nonstop online sind. Was Banken, Chemie- oder Automobilindustrie vorführten und teils noch vorführen, hat Silicon Valley noch perfektioniert. Sicherheit und Mobilität werden uns von den Automobilherstellern als Package verkauft. Das ändert aber nichts daran, dass der Strassenverkehr nach wie vor die unsicherste Art der Fortbewegung ist. Apple, Google und Co wenden viel auf für die Wahrung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung. Sie geben vor, die Guten zu sein, die uns den Alltag erträglicher machen, uns länger leben lassen und das erst noch gesünder. Doch das ist nur ein Alibi, denn auch in Silicon Valley ist Geld der grösste Anreiz. Wie sonst ist zu erklären, dass Facebook nach dem Skandal um Cambridge Analytica erneut im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit steht? Dieses Mal, weil auch Smartphone-Hersteller Daten zugespielt bekamen. Sie lernen es nie, man muss es sie lehren.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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