Wer sich bewegt, hat verloren. Wie habe ich es geliebt dieses Spiel mit den langen, bunten Holzstäbchen, die wie kleine Speere aussahen. Man liess sie aus einem Bündel auf den Spieltisch fallen, so dass sich ein wilder Haufen von Stäbchen bildete. Jeder Spieler versuchte abwechslungsweise einzelne Stäbchen aus dem Haufen zu ziehen, ohne dass sich ein anderes Stäbchen bewegte. Das erforderte Geschick und eine unglaublich ruhige Hand. Kommt es dennoch zu einer Bewegung eines zweiten Stäbchens, hat man verloren und der nächste Spieler darf sein Glück versuchen. Das Spiel steht sinnbildlich für die Situation auf dem Schweizer Mietwohnungsmarkt. Wer sich bewegt, hat verloren.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Auf dem Mietwohnungsmarkt gibt es zwei Kategorien von Haushalten: Die Sesshaften oder Bestandesmietenden, welche seit mehreren Jahren in ihrer Mietwohnung wohnen, und die Umziehenden, die aus verschiedenen Gründen wie zum Beispiel Jobwechsel, Partnerschaft oder Familiengründung beziehungsweise -zuwachs eine neue Wohnung benötigen. Beide Haushaltsgruppen sehen sich auf ein und demselben Mietwohnungsmarkt sehr unterschiedlichen Bedingungen ausgesetzt. Für erstere stellt die eingeschränkte Verfügbarkeit von Wohnungen und der starke Mietpreisanstieg kein Problem dar. Mietpreiserhöhungen im Bestand sind streng reguliert. Die meisten Bestandesmietenden kamen in den Jahren vor der Zinswende Ende 2021 in den Genuss von Mietpreissenkungen. Ihre Belastung des Haushaltsbudgets durch die Miete blieb damit in den letzten zwei Jahrzehnten stabil oder ist sogar gesunken, wie im April eine Studie vom Bundesamt für Wohnungswesen gezeigt hat. Die Wohnungsknappheit kümmert sie nicht. Zumindest so lange nicht, bis sie gezwungen sind, die Wohnung zu wechseln. Denn eine neue Wohnung zu finden, die nicht teurer ist als die alte, erweist sich aufgrund der Wohnungsknappheit als sehr schwierig bis unmöglich. Bei 28 Prozent der Schweizer Haushalte würde heute die Wohnkostenbelastung mehr als ein Drittel des Bruttoeinkommens ausmachen, wenn sie in eine andere, aber gleichartige Wohnung umziehen müssten, wie Wüest Partner errechnet hat.
Dort, wo die Knappheit besonders ausgeprägt ist, wie zum Beispiel in den Kantonen Genf, Zug, Zürich und Waadt sind die Belastungen für noch höhere Anteile der Bevölkerung zu hoch. Exemplarisch zeigt das Beispiel Genf die Langzeitfolgen von Mietpreisregulierungen. Diese reduzieren die Anreize für Investoren, Wohnungen zu bauen, wodurch der Markt früher oder später unter einem Angebotsmangel leidet, was wiederum stark steigende Neumieten nach sich zieht. In Genf, dem Kanton mit den umfangreichsten Mietpreisregulierungen in der Schweiz, würde ein Umzug bei 56 Prozent der Haushalte zu einer Wohnkostenbelastung führen, die mehr als ein Drittel des Bruttoeinkommens ausmacht. «Ja nicht umziehen» lautet daher das Motto in Genf. Wer sich bewegt, hat verloren. Das gilt heute in erster Linie in städtischen Räumen, doch das Problem weitet sich aus, betrifft immer mehr die Agglomerationen und bald auch den periurbanen Raum, wenn nicht Gegensteuer gegeben wird.
Ein solcher Mikado-Wohnungsmarkt ist zutiefst ungerecht. Bestraft werden willkürlich einerseits Personen, in deren Leben Veränderungen einen Wohnungswechsel erzwingen, und andererseits Mietende, die aus ihrer Wohnung wegen Eigenbedarfs des Eigentümers oder der Eigentümerin oder wegen Sanierung ausziehen müssen. Andere, die schon sehr lange in derselben Mietwohnung leben, bezahlen dagegen für eine Wohnung vergleichbarer Qualität bloss einen Bruchteil der Marktmieten Monat für Monat. Ist das fair? Ist es eine Leistung, möglichst lange in einer Wohnung auszuharren, auch wenn diese den Bedürfnissen längst nicht mehr entspricht? Ist das die Idee unseres Wohnungssystems? Wohl kaum.
Besteht Hoffnung, dass sich die Situation verbessert? Nein, im Gegenteil. Die hausgemachte Wohnungsknappheit macht die Situation noch schlimmer. Während beim Referenzzinssatz nach zweimaligem Anstieg keine weiteren Erhöhungen mehr drohen und Ende Jahr sogar eine Senkung gut möglich scheint, was die Mietpreisteuerung im Bestand mildert, heizt die Wohnungsknappheit das Mietpreiswachstum bei den Neumieten an. In den letzten 12 Monaten haben sich die Neumieten landesweit um 6,3 Prozent erhöht. Der Zweiklassenunterschied auf dem Mietwohnungsmarkt zementiert sich und die fragwürdige Ungleichbehandlung wird noch grösser. Nur der Bau zusätzlicher Wohnungen kann mittelfristig die Fehlentwicklung mildern. Langfristig müsste die Regulierung intelligenter ausgestaltet werden.
Die Malaise ist entstanden, weil die Langzeitfolgen von Markteingriffen zu selten abgeklärt oder berücksichtigt werden, obwohl sie mit schwerwiegenden Nachteilen verbunden sind. Die Verschwendung von Wohnraum, die aufgrund des Lock-in-Effekts entstanden ist, nimmt immer groteskere Formen an. In unserer Immobilienstudie vom ersten Quartal 2024 konnten wir zeigen, dass derzeit genügend Wohnraum für alle Mietbedürfnisse vorhanden wäre und sogar noch 170’000 Wohnungen für das künftige Bevölkerungswachstum freigespielt werden könnten. Kommt hinzu, dass die Behinderung der Wohnungsmobilität auch die wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit auf sich verändernde wirtschaftliche Bedingungen vermindert.
Den Preis dieser Regulierungsfehler zahlen überproportional die mobilen Altersklassen. Das heisst, die Jungen in den Altersklassen zwischen 18 und 40 Jahren. Sie weisen eine mehrfach höhere Wohnungsmobilität aus als die übrigen Altersklassen und leiden dadurch überproportional am Zweiklassensystem unseres Mietwohnungsmarktes. Doch auch für die Bestandesmietenden ist die Situation belastend. Trotz zu viel oder zu wenig Wohnfläche kommt Umziehen aus finanziellen Gründen beziehungsweise aufgrund des Lock-in-Effekts nicht in Frage. Suboptimale Wohnsituationen können dadurch nicht korrigiert werden. Und das Wissen, dass jeden Tag die Hiobsbotschaft einer Wohnungskündigung eintreffen könnte, wodurch man schlagartig vom Lager der Gewinner ins Lager der Verlierer gestossen wird, raubt auch manchen Bestandesmietenden den Schlaf. (Raiffeisen/mc)