Diese Ostern waren so anders wie vermutet. Man muss nur die Bilder vom Gotthard in Erinnerung rufen – keine Menschenseele auf den Strassen, wie ausgestorben. Wann hat es das zuletzt gegeben? Wahrscheinlich haben auch sie an Ostern nicht das unternommen, was sie sonst so tun oder gar vor hatten. In die Ferne zu schweifen war ohnehin kein Thema, aber auch die sonst so beliebten Ausflugsziele in der Nähe waren kaum frequentiert – mit nur wenigen Ausnahmen, wie es in den Nachrichten hiess. So langsam hat die Schweizer Bevölkerung Übung im zuhause bleiben.
Kein Wunder, es zieht sich ja auch hin. Mit zunehmender Dauer sehen wir unseren sonst so gewohnten Alltag in weiter Ferne schwinden und gewöhnen uns so ganz schleichend an das neue ungewohnte Leben. Auch wenn der Volksmund gern von 21 Tagen spricht, gehen Verhaltensforscher eher davon aus, dass es länger, etwa zwei Monate, dauert, bis wir Menschen eine Gewohnheit ändern oder eine neue annehmen. Dabei lernen wir mit den Wiederholungen, ob gewollt oder ungewollt.
Corona zwingt uns allen gewissermassen neue Gewohnheiten auf oder entzieht uns bekannte. Mikroökonomisch betrachtet hat sich mit dem Coronavirus unser sogenanntes Haushaltsoptimum verändert, weil wir nun auf einer anderen Nutzenfunktion unterwegs sind als sonst, zwangsläufig, da wir ja unsere Präferenzen den neuen Gegebenheiten anpassen mussten. Keine Ausgaben für Reisen, Ausflüge, Konzerte oder Sportveranstaltungen mehr, dafür vielleicht etwas mehr für Heimlieferungen von was auch immer.
Wahrscheinlich verbringt ein grosser Teil der Bevölkerung auch deutlich mehr Zeit vor irgendwelchen Bildschirmen als sonst und geht vielleicht früher oder später zu Bett als sonst. Eine völlig veränderte Nachfragekurve ist das Resultat und je länger Corona dauert, desto dauerhafter werden auch bestimmte Präferenzen und Verhaltensmuster angepasst, vielleicht sogar irreversibel. Auf der Angebotsseite hinterlässt dies seine Spuren. Erdöl ist heute spottbillig, die Airlines sind im wahrsten Sinn am Boden und die Reise- und Tourismusbranche am Darben.
Corona hält Zinsen tief
Wenn man die Kursentwicklung an den Börsen als Massstab nimmt, dann scheint diese zum Schluss gelangt zu sein, dass schon bald wieder der gewohnte Alltag Einzug nimmt. Mitte März nahm die Talfahrt an den Märkten ein Ende und seitdem herrscht weniger Nervosität und wieder mehr Zuversicht. Es kam in den USA zu einer historischen Kursrallye, obwohl sich gerade da abzeichnete, dass die Corona Welle erst anrollt. Natürlich sind es die gigantischen Geldzusagen seitens der Zentralbank und Donald Trumps, welche die Märkte beruhigten. Aber gerade der Geldhüter musste grobes Geschütz auffahren, um die Panik aus den Märkten zu nehmen. Einzigartig schnelle und starke Zinssenkungen waren zuvor an den Märkten verpufft. Wir sind wieder im höchsten finanz- und geldpolitischen Zyklus angelangt und am Ende dieses Zyklus werden die Schulden der Staaten derart aus dem Ruder laufen, dass deren Bedienung nur noch gewährleistet bleibt, in dem die Zinsen künstlich tief gehalten werden. Corona beschert dem Markt somit weiter gute Aussichten auf billiges Geld. Wahrscheinlich steckt aber mehr hinter der Kehrtwende an der Börse.
Die Marktteilnehmer hoffen darauf, dass wir ein „V“ und kein „U“ sehen werden. „V“ steht für einen markanten Konjunkturrückschlag, aber auch einen massiven Rebound im Zuge der Corona-Normalisierung. „U“ hingegen für ein längeres Verweilen nach dem Sturz im Tief und einen ebenso längeren Pfad zur Normalisierung. Aktuell handelt der Markt das „V“. Das „V“ hiesse wohlgemerkt auch, dass wir alle rasch zurückkommen auf den alten Weg, nur eine kleine Delle der Nachfragekurve sozusagen.
Doppelter Schock
„V“ oder „U“ dahingestellt, beide Szenarien werden
heftige Spuren in der Wirtschaft hinterlassen. Wir sehen das weltweit an den massiv ansteigenden Arbeitslosenzahlen, auch hierzulande ist der Arbeitsmarkt stark unter Druck geraten. Die Einbrüche der Weltwirtschaftsleistung dürften im zweiten Quartal historisches Ausmass annehmen, was sich in den aktuellen Arbeitsmarktdaten noch gar nicht widerspiegelt. Je nach Land und dessen Ausstattung mit automatischen Stabilisatoren wie der Kurzarbeitsentschädigung wird dies den Arbeitsmarkt noch zusätzlich belasten. Noch mehr Menschen als jetzt weltweit, vor allem aber die in den hochentwickelten Volkswirtschaften werden in den kommenden Monaten mit wirtschaftlichen Härten konfrontiert sein. Dazu wird Corona das ganze Jahr über ein Thema bleiben, so richtig normal wird unser Leben 2020 kaum mehr werden – auch wenn die Dänen, Österreicher oder Spanier jetzt Lockerungen planen und wir früher oder später ganz sicher folgen werden.
Die Börse ist drum gut aufgehoben, wo sie heute steht. Nicht mehr auf Weltuntergang, aber auch nicht mehr auf schwindelerregenden Höhen. Jetzt müssen Gesellschaft und Wirtschaft den doppelten Schock aus Rezession und Corona erst einmal verdauen, bevor gesagt werden kann, wohin die Reise geht. Das mit dem „V“ könnte auch schiefgehen. Wenn wir anders sind in Zukunft – so wie eben erst über Ostern.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen