Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Modewort Nachhaltigkeit

Martin Neff

Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Das Wort ist derweil in aller Munde. Die Rede ist von Nachhaltigkeit. Kein exponiertes Unternehmen – egal welcher Branche – kann es sich heute noch leisten, diesen Begriff zu ignorieren. Wer Nachhaltigkeit auf Deutsch googelt, erhält – Stand Montag – stolze 61‘500‘000 Ergebnisse. Der angelsächsische Begriff Sustainability bringt es auf 15 Mal mehr Treffer, also schon fast eine Milliarde. Wer nun aber glaubt, das sei viel, täuscht sich, denn es gibt Begriffe, die unsere Gesellschaft, vor allem aber unsere Zukunft weitaus weniger betreffen und trotzdem gefragter sind im weltweiten Netz. Sie wissen, was ich meine.

Das sagt bereits etwas aus. Natürlich ist das Internet nicht der Nabel der Menschheit, aber doch ein Spiegelbild populärer Strömungen und dazu gehört Nachhaltigkeit zweifelsohne. Aber oft ist sie nur ein Etikett, eine Vokabel im täglichen Sprachgebrauch. In meiner Kindheit war Nachhaltigkeit fast noch ein Fremdwort. Ich war gerade mal acht, als der Club of Rome gegründet wurde und den Begriff der nachhaltigen Zukunft prägte. Ich erinnere mich auch vage, dass ich Ende der 1980er Jahre das erste Mal beruflich mit dem Wort Nachhaltigkeit – nicht zu verwechseln mit dem schon etwas älteren Umweltschutz – in Berührung kam. Das war die Zeit, als sich die Bauwirtschaft, für die ich damals tätig war, als nachhaltige Branche neu zu positionieren versuchte.

Man muss wissen, dass damals in eine Baumulde aller Schutt, welcher Art auch immer, landete und dieses Sammelsurium verschiedenster Materialien und Werkstoffe dann auf einer Müllkippe entsorgt oder sogar verbrannt wurde. Wer heute dabei zusieht, wie ein Haus abgebrochen wird, der wird feststellen, dass es mehrere Mulden gibt, für Holz, Gestein oder Metall beispielsweise. Zweifellos ist das ein und nicht der einzige Fortschritt. Recycling bzw. Wiederverwertung waren der Trigger für diesen – für damalige Verhältnisse – Quantensprung in der Baubranche. Es ging der Branche natürlich auch um ihr Image, denn Bau und Umweltschutz galten einst als kaum miteinander vereinbar. Heute darf man der Branche inklusive Immobilienwesen zubilligen, dass sie Punkto Nachhaltigkeit nicht Fortschritte erzielt hat, sondern eine Vorreiterrolle einnimmt. Was man von der Automobilbranche nicht behaupten kann.

Etwa zur gleichen als das Mehrmuldenkonzept umgesetzt wurde, begann der Recyclingboom. Private Haushalte trennten ihren Müll, entsorgten Glas an den Sammelstellen oder Altpapier bzw. Karton an den Sammeltagen, zweifellos alles ein Fortschritt gegenüber früher. Nachhaltigkeit ist indes mehr. Doch dazu später.

Wachstum um jeden Preis
Die Menschheit, vor allem aber deren Bedürfnisse wuchsen schneller als die Anstrengungen für die Umwelt, mit der Folge, dass im Zuge der Globalisierung der Müll heute nicht mehr ausschliesslich vor der Haustüre der Wohlhabenden entsorgt wird, sondern viel davon in Entwicklungsländern landet oder in den Ozeanen. Unsere vermeintliche Nachhaltigkeit wird so zur Bedrohung anderer, schwächerer. Die Korrelation zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Umweltschutz ist nach wie vor negativ, auch wenn sie nicht messbar ist, da es keine Marktpreise für Umweltschäden gibt. Ganz sicher ist sie alles andere als nachhaltig.

Man vergegenwärtige sich nur unserer CO2-Bilanz. Zwar sind unsere Fahrzeuge heute effizienter und mit Katalysatoren oder Russfiltern versehen, unsere Heizungen ebenso, viele Bahnstrecken vollends elektrifiziert und die Industrieproduktion insgesamt „sauberer“, aber auch da schlägt die Anspruchsgesellschaft, die auch immer noch eine Wegwerfgesellschaft ist, den hehren Bemühungen um „Nachhaltigkeit“ ein Schnippchen. Denn die sparsameren Fahrzeuge werden immer grösser und schwerer. Die Energieeffizienz des Gebäudeparks ist deutlich höher, dafür beanspruchen wir aber auch mehr Fläche. Der Mehrkonsum frisst demnach die Produktivitätsfortschritte weg – zu Lasten der Nachhaltigkeit.

Hinzu kommt, dass unser Verhalten manch paradoxe Züge annimmt. Solarzellen auf dem Dach des Einfamilienhäuschens, ein Elektrofahrzeug in der Garage, aber Null Flugscham oder zwei Kreuzfahrten jährlich rund um den Globus. Aluminiumdeckel akribisch gesammelt, aber noch immer jedes Gemüse oder Obst in verschiedene Plastiksäckchen gepackt – hierzulande vielleicht etwas weniger, seit die etwas kosten. Es gibt Unmengen solcher Paradoxa, die zu einer subjektiv situativen Sicht des eigenen Verhaltens und des der anderen Mitmenschen führen, was das Ergebnis für die Nachhaltigkeitsbilanz erheblich verschlechtert. Letztlich wird auch sie dem Wachstum geopfert.

Generationenkonflikt
Was ich nicht wusste, der Begriff der Nachhaltigkeit wurde schon 1713 vom sächsischen Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz gebraucht mit Bezug auf die Forstwirtschaft und einer einfachen sowie unmittelbar einleuchtenden Begriffserklärung. Man solle nur so viele Bäume fällen, wie im gleichen Zeitraum auch wieder nachwachsen können. Die Ausdehnung auf alle gesellschaftlichen Bereiche und der eigentliche Beginn des Diskurses über Nachhaltigkeit fallen auf die späten 1980er Jahre zurück. Im sogenannten Brundtland-Bericht, 1987 veröffentlicht und nach der Vorsitzenden der Kommission Gro Harlem Brundtland, der damaligen Ministerpräsidentin Norwegens, benannt, ist eigentlich alles gesagt, was man über das Konzept der nachhaltigen Entwicklung wissen muss. Es heisst dort: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“

Da meine Generation und auch die darauf folgende(n), über die Verhältnisse gelebt haben, was sukzessiv sichtbar wurde und noch immer wird, rufen die Jungen den Alten diesen Grundsatz wiederholt in Erinnerung. Das Gefühl, dass es sich bei Nachhaltigkeit eher um ein Lippenbekenntnis als ein Postulat handelt, hat sich über die Zeit verdichtet.

Friday for Future ist daher die logische Konsequenz des offenbaren Generationenkonflikts in Umweltfragen und auch des besseren Verständnisses für solche. Die Demonstranten, welche in den 1970er Jahren gegen Atomkraft demonstrierten, fuhren zum Teil mit ihren eigenen PKWs zur Demo und galten als fortschrittsfeindliche Exoten am äusseren Rand der aufkeimenden Wohlstandsgesellschaft. Ihre Kinder verwandelten sich als Erwachsene nicht selten zu ziemlich überzeugten Dinkies oder Yuppies. Greta und ihre Mitstreitenden sind keine Randerscheinungen. Es geht ihnen um mehr als den damaligen Demonstranten, nicht allein um Umweltbelange sondern um die oben erwähnte Intergenerationenbilanz. Viele von ihnen haben keinen Führerschein – undenkbar für die Kinder des fossilen Zeitalters und reisen zu den Kundgebungen im ÖV an.

Was uns Corona lehrt
Greta und „ihre“ Bewegung wurden durch das Covid19-Virus genauso ausgebremst wie die Wirtschaft und die durch sie verursachten Schäden an der Umwelt. Fast kein Flugzeug am Himmel, viel weniger Verkehr auf den Strassen, keine Karawanen von Kreuzfahrt- oder Containerschiffen und eine global gedrosselte Produktion verbesserten die Nachhaltigkeitsbilanz massiv, doch zu einem Preis, der vielen zu hoch war.

Rasch bildete sich Widerstand gegen den amtlich verordneten Quasistillstand. Eine rasche Rückkehr zum Normalzustand sei anzustreben, denn die wirtschaftlichen Schäden würden den gesundheitlichen Nutzen überwiegen. Da es keine Preise für Menschenleben gibt, steht diese Argumentation zwar auf dünnem Eis. Sie lässt sich aber auch nicht widerlegen. Ungesund und nachhaltig vertragen sich aber schlecht, für diesen Befund braucht es keine Messlatte. Corona hat uns so erneut vor Augen geführt, wie wichtig es wäre, endlich die rein quantitativen Wachstumsbilanzen um qualitative Aspekte zu ergänzen oder noch besser, die negativen externen – und natürlich auch die positiven – Effekte in die Berechnung des Wohlstandes und seines Wachstums mit einzurechnen, vor allem aber die Preise entsprechend zu stellen. Corona hat uns zudem gelehrt, dass Regierungen unter gewissem Druck erstaunlich schnell, flexibel und massiv eingreifen können. In Punkto Nachhaltigkeit muss es ja nicht ganz so schnell gehen, aber Klimaziele zu definieren, die in zehn, zwanzig oder noch mehr Jahren erreicht werden sollen, sind nicht mehr als ein Missbrauch der Nachhaltigkeit, reine Lippenbekenntnisse. Umso mehr, als sie laufend verschoben werden. Nicht zuletzt lehrt(e) uns Corona, dass weniger nicht zwingend schlechter sein muss, aber eben ungewohnt ist.

Und wie heisst es doch so schön? Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Seine Gewohnheiten, auch das eine Lehre von Corona, ändert er nicht freiwillig. Am vergangenen Wochenende sah man im ÖV hierzulande nur wenige Maskenträger. Die meisten folgten der Empfehlung des Bundesrates nicht. Seit die Masken Pflicht sind und Sanktionen bei Nichtbefolgung drohen, sieht man keine Menschen ohne Maske mehr im Zug, Bus oder Tram. Das erinnert an die Einführung der Kehrichtsackgebühr. Der anfängliche Widerstand war rasch gebrochen und heute schert sich kaum jemand mehr darum. Manchmal braucht es halt doch Verbote, so unpopulär sie geworden sein mögen.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Exit mobile version