Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nimm, es gehört nicht mir

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Nimm, es gehört nicht mir
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Mein Jüngster ist in Mathe jetzt bei den Potenzen angelangt. Die Logik der Potenzrechnung hat er begriffen, nur mit den Grössenordnungen tut er sich (noch) schwer. Bei Hundert, Tausend oder Zehntausend hat er noch die Übersicht. Eine Million ist für ihn noch fassbar, aber nur weil er schon von Millionären gehört hat und Dagobert Duck liebt. Eine Billion aber sprengt seine Vorstellungskraft. Zehn hoch zwölf, eine Eins mit zwölf Nullen dran, ist ja auch eine schier unvorstellbar grosse Zahl und für uns in der Schweiz erst recht.

Wir bewegen uns wirtschaftlich noch in der Welt der Milliarden. Unsere gesamte Wirtschaftsleistung – gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug im Jahr knapp 700 Milliarden Franken. Drückt man dies in Billionen aus, dann klingt das recht bescheiden, sind’s dann doch „nur“ 0,7 Billionen. In den USA mit einem BIP in der Höhe von bald 22 Billionen Dollar ist man grosse Zahlen mit vielen Nullen dahinter schon etwas länger gewohnt. Die „deutsche“ Billion entspricht in US-amerikanischer Sprache sogar einer Trillion. Wieso das so ist, liegt am Umgang mit Zahlen, die grösser als eine Million sind. Es gibt die sogenannte lange Skala, welche jeweils mit Potenzen der Zahl 1‘000‘000 rechnet und die kurze Skala, die jeweils 1’000 potenziert. Welches System mehr Sinn macht, ist Geschmackssache. Beide Systeme folgen jedenfalls einer gewissen Logik. Im Weiteren gebrauche ich hier die in unseren Breiten übliche lange Skala.

Der Exkurs diente eigentlich lediglich dazu, aufzuzeigen, dass man im Umgang mit riesigen Zahlen und vielen Nullen schnell einmal die Übersicht verlieren kann. Eigentlich sind die richtig grossen, die riesigen Zahlen eher in der Natur zu Hause als im menschlichen Alltag. Die Masse der Erde zum Beispiel: eine Zahl mit 24 Nullen dahinter oder Entfernungen von Galaxien, berechnet in Kilometern mit ebenfalls x Nullen. Diese sind alles mehr oder weniger Konstanten. Ihre Dimensionen verändern sich über die Zeit kaum oder gar nicht, genau so wenig wie der Erdumfang in Millimetern. Weniger konstant hingegen sind die Wirtschaftsund Finanzmarktzahlen. Das ist insofern nicht verwunderlich, als unser Konzept des breit prosperierenden Wohlstands auf Wachstum gebaut ist.

Denn nur wenn das gesamtwirtschaftliche Einkommen (BIP) wächst, können auch individuelle Einkommen zulegen. Über das, wie dieser Verteilung soll hier nicht weiter gemunkelt werden. Aber wir halten fest, dass wir in der Wirtschaft allein schon auf Grund des Wachstumsdogmas mit immer grösseren Zahlen hantieren. Jeder kennt die Weltschuldenuhren, die bekanntlich gnadenlos ticken. Ende des ersten Quartals 2020 etwa betrug die Staatsverschuldung der USA 23‘686‘870‘812‘640
Dollar und 8 Cent. Weltweit und ergänzt um die Schulden privater Haushalte, Finanzinstitute und Unternehmen liegt diese Zahl um mehr als das Zehnfache höher (253 Billionen USD). Und sie hat in der letzten Dekade fast überall auf der Welt mehr zugenommen als die gesamtwirtschaftliche Leistung, hauptsächlich weil die Überwindung der Finanzkrise 2008 die Finanzen der Staaten ausgehebelt hat und Schuldenmachen seit dem so attraktiv geworden ist, wie nie zuvor in der Geschichte. Hier spielt lediglich eine Null eine Rolle, aber eine wichtige und zwar die Null vor dem Komma und nicht die vielen Nullen danach.

Salonfähige Nullen
Der mit Abstand grösste Markt der Welt ist aber weder der Schuldenmarkt (253 Billionen USD) noch der Immobilienmarkt (280 Billionen USD) und auch nicht der Markt der weltweiten Vermögen (360 Billionen USD). Es ist der Markt der derivativen Finanzprodukte, der aktuell einen Wert von sage und schreibe fast 600 Billionen aufweist – beinahe das Siebenfache der weltweiten Börsenkapitalisierung. Er war schon 2008 der Grund für den Beinahe-Zusammenbruch des Finanzsystems, als die vermeintlich todsicheren und liquiden Spekulations- bzw. Absicherungspapiere zu Bomben wurden, die plötzlich keiner mehr anfassen wollte. Die Folgen sind bekannt und auch heute noch spürbar. Etwas boshaft ausgedrückt haben Wallstreet und Co im Jahre 2008 Nullen erst richtig salonfähig gemacht. In Europa brachte dann die Eurokrise den Durchbruch der Null. Und da das Nullregime nun schon länger dauert, als sich je jemand hätte träumen lassen, wurde man immer lockerer im Umgang mit den grossen Zahlen. Und dann kam Corona und mit COVID-19 fiel jede Zurückhaltung. Das neu aufgelegte Quantitative-Easing-Programm (QE4) der USNotenbank ist vom Volumen her grösser als alle bisherigen Programme zuvor. Die notabene, sprengten seinerzeit schon alles bisher Dagewesene.

Sparen ist keine Tugend
Selbst die bis zuletzt ziemlich standhaften Deutschen sind nun auf diesen Weg eingeschwenkt und haben der schwarzen Null, die noch vor drei Monaten als heilig galt, abgeschworen. Nicht nur die schwarze Null fiel über Bord, sondern mit ihr auch grundsätzliche deutsche Tugenden, namentlich die der Sparsamkeit und der soliden Haushaltsführung. Maastricht ist jetzt auch für Deutschland nur noch eine Stadt in den Niederlanden. Interessant ist, wie rasch dies ging und auch wie schnell man mit Rechtfertigungen dastand.

Hatte man 2008 in Europa noch gezögert, als die USA von Europa Mittel für die Billionenprogramme zur Stützung von Konjunktur und Märkten einforderten, mussten die Amerikaner dieses Mal gar nicht erst bitten. Die Deutschen wechselten flugs auch in der EU die Seite in Richtung Klotzen statt Kleckern und so blieben in Europa nur noch vier Sparsame übrig (Österreich, Dänemark, Schweden und die Niederlande). Die Begründung aus Deutschland lässt aufhorchen. Gemessen am EU-Schnitt und vielen anderen Länder sei eine Schuldenquote von hohen 70% immer noch Spitzenwert. Das mag stimmen, aber ist im Kern falsch. Nur weil plötzlich alle langsamer fahren, bin ich noch lange nicht schnell, nur schneller.

Und wie sieht es eigentlich hierzulande aus? Nicht viel besser, wie ich meine. Der Bund hat via Notrecht schon Unsummen gesprochen, wobei es dem Parlament zunehmend unwohler zu werden schien, laufend grössere Millionen- aber auch Milliardenbeträge durchwinken zu müssen, ohne diese davor auf Herz und Nieren geprüft haben zu können. Die Betonung lag aber wohl auf „schien“. Denn am Montag macht der Ständerat fest, was der Nationalrat schon am letzten Freitag entschied, namentlich einen Mieterlass um 60% für Geschäftstreibende, welche von der behördlichen Schliessung betroffen waren. Für Härtefälle auf der Vermieterseite sprach das Parlament zudem noch Geld. Das ist schon starker Tobak. Erst beschwert sich die Legislative darüber, dass die Exekutive den Weg der Tugend verlässt und das Parlament via Notrecht aushebelt und dann greift eben dieses Parlament selbst zur Giesskanne.

Denn die Mieten allein sind nicht das eigentliche Problem in der Branche von Detaillisten oder Gastwirten, wo die Personal- und Sachkosten die viel grösseren Kostenblöcke bilden, sondern die weggebrochenen Umsätze. Geld zu verteilen, das einem nicht gehört, ist schon länger ein politischer Volkssport geworden, der über die Wiederwahl entscheidet. Wenn wir so weiter machen, werden wir vielleicht eines Tages nur noch darauf stolz sein, nicht ganz so schlimm zu wirtschaften wie andere und das allein schon als besser empfinden, vielleicht gar als gut. Dann werden wir schon bald in die Welt der Fantastilliarden vordringen. In der kennt sich mein Junior wiederum aus, dem geizigen Dagobert sei Dank. Der spart aber auch, statt das Geld rauszuwerfen. Denn es gehört alles ihm.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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