Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: No Country for Old Men

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: No Country for Old Men
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

«Kein Land für alte Männer» ist der Titel eines Filmes der Gebrüder Ethan und Joel Coen, zweier kongenialer Regisseure, die für ihren Film 2008 mehrere Oskars erhielten. Der Titel ist einem Gedicht des Iren William Butler Yeats entliehen, der sich darin beklagt, nicht mehr zu den Jungen zu gehören. Die USA zählen mit einem Durchschnittsalter der Bevölkerung von 38 Jahren zu den Industrieländern mit der jüngsten Bevölkerung. Mit 40 Jahren zählt man in den USA zur älteren Hälfte der Gesellschaft und zu einer Minderheit. Sogar die Vermögenden werden gegenwärtig immer jünger, weil viele Jungspunde im Technologie- oder Kryptosektor reich geworden sind. Das macht deutlich, wie dynamisch die USA derzeit unterwegs sind. Kein Land bringt aktuell in so hoher Kadenz so viele neue Technologien, kulturelle Modeerscheinungen und kommerzielle Innovationen hervor wie die USA.

von Fredy Hasenmaile, Raiffeisen Chefökonom

Gänzlich anders präsentiert sich die politische Elite. Das Durchschnittsalter im amerikanischen Senat beträgt 64 Jahre, im Repräsentantenhaus 57 Jahre. Während in der Schweiz das älteste Parlamentsmitglied 74 Jahre alt ist, politisieren in den USA noch relativ viele über 80-Jährige in Washington. Dazu zählt etwa Nancy Pelosi (84 Jahre), die bis im letzten Jahr sogar noch die Sprecherin des Repräsentantenhauses war. Und nun treten für die nächste Präsidentschaft die ältesten Kandidaten in der Geschichte der USA an. Ein Wahlkampf, den man in dieser Form nicht für möglich gehalten hätte. Hier ein notorischer Lügner, der jeglichen Respekt vor der Wahrheit verloren hat oder nie hatte, dort ein starrköpfiger Greis, der nicht wahrhaben will, dass er die Fitness für das Amt schlicht nicht mehr mitbringt. Das jüngste Fernsehduell war ein Schock.

Lange konzentrierte sich die Frage nach der Tauglichkeit für das Präsidentenamt auf Donald Trump, doch seit dem Fernsehduell stellt sich diese Frage bei Biden weitaus dringlicher. Ohne Teleprompter und gänzlich auf sich allein gestellt – die TV-Debatte zeigte schonungslos, wie schlecht es um Biden bestellt ist. Seine bisherigen Aussetzer waren nicht Einzelfälle, die von den republikanisch geprägten Medien in Endlosschlaufe wiederholt werden, sondern sie sind offensichtlich Normalzustand.

Die Erwartungen an die beiden Kandidaten im Hinblick auf das TV-Duell waren dabei lächerlich tief, was allein schon Bände spricht. Von Trump erhofften sich seine Befürworterinnen und Befürworter, dass er für einmal nicht ausfällig wird, bei Biden, dass er nicht umfällt. Biden schaffte es zwar, die 90 Minuten aufrecht durchzustehen, doch zu zahlreich waren die Momente, in denen er den Faden verlor und irgendetwas Zusammenhangloses murmelte. Sein Wille war in diesen Momenten zwar präsent, aber nicht sein Geist. Die Belastungen des Präsidentenamtes haben bei Biden unübersehbare Spuren hinterlassen. Kein Aufputschmittel kann das noch verschleiern. In den dreieinhalb Jahren seiner Präsidentschaft ist Biden stark gealtert, wie Bildervergleiche zeigen. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner schämen sich inzwischen für das Bild, das ihr Präsident abgibt, und es ist zu bezweifeln, ob selbst seine Anhängerinnen und Anhänger ihm noch ihre Stimme geben.

Würden Sie Joe Biden zum Präsidenten Ihres Quartiervereins wählen? Die Antwort lautet wohl Nein. Noch grösser als meine Verwunderung über das unwürdige Schauspiel vor laufenden Kameras ist diejenige über den Realitätsverlust des amtierenden Präsidenten sowie weiter Teile der demokratischen Partei. Trotz dem TV-Desaster und dem nicht mehr zu verbergenden schlechten Gesundheitszustand von Biden hält die demokratische Partei noch immer an ihm fest. Dabei ist klar: Joe Biden hat keine Chance mehr, diese Wahl zu gewinnen. Absolut keine. Die amerikanischen Wählerinnen und Wähler lassen sich nicht täuschen. Sie kennen das Älterwerden aus ihrem eigenen Umfeld und wissen, dass es einer Einbahnstrasse gleicht. Und sie haben einen grossen Nationalstolz. Sie sehnen sich nach einem starken Leader, der die Bösen von Amerika fernhält und nebenbei die Welt rettet.

Kaum ein Land bewundert starke Helden so sehr wie Amerika. Man schaue sich nur die Hollywoodfilme an. Obwohl Biden sogar in den Momenten, als ihn seine Kräfte verliessen, noch mehr Sinnvolles gesagt hat als Trump, wird letzterer das Rennen für sich entscheiden, wenn die Demokraten «Sleepy Joe», wie Biden von Trump despektierlich genannt wird, nicht auswechseln. Einem Teil der Demokraten dämmert es nun, sodass Panik in deren Reihen ausgebrochen ist. Doch man klammert sich weiterhin an den Strohhalm Biden. In den Wettbüros hat sich die Realität dagegen bereits durchgesetzt. Nachdem Biden Anfang Juni mit rund 48 Prozent nur wenig hinter Trump zurücklag, ist er nach dem TV-Duell abgestürzt und liegt aktuell bei rund 21 Prozent. Davon wird er sich nicht mehr erholen.

Dass in den USA die Präsidentschaftswahlen auf einem dermassen erbärmlichen Niveau stattfinden, kann nur als tiefe Systemkrise der amerikanischen Politiklandschaft gewertet werden. Noch nie in der Geschichte der USA waren die Kandidaten für das Amt so alt. Über 70 Jahre alt war vor Trump und Biden bisher nur Ronald Reagan mit 73 Jahren bei der Vereidigung für seine zweite Präsidentschaft. Trump und Biden dürften bei einer Wahl mit 78 bzw. 82 Jahren deutlich älter sein und im Falle von Biden den Rekord schlagen, den er selbst vor vier Jahren aufgestellt hatte.

Weshalb bringt es ein Land mit 341 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern nicht fertig, eine valablere Kandidatenauswahl für die Präsidentschaft anzubieten? In einem so grossen Land und einer demokratischen Leistungsgesellschaft müsste man erwarten, dass in der Endausscheidung zwei hochqualifizierte Bewerber das Rennen unter sich ausmachen. Stattdessen zerbricht man sich den Kopf darüber, welcher Kandidat das geringere Übel ist, und auch dann fällt einem die Entscheidung noch schwer. Über die Gründe für das dysfunktionale politische System lässt sich nur spekulieren. Das amerikanische Wahlsystem erfordert viel Geld für die Wahlkampagne. Jüngere Kandidierende verfügen selbst weder über ausreichende Mittel noch über das erforderliche Netzwerk zu vermögenden Geldgebern, die ihrerseits auch eher alt sind.

Ein weiterer Faktor sind die Medien. Im Zeitalter sozialer Medien und eines 24-stündigen Hungers nach News erzielen kontroverse Kandidierende höhere Bekanntheitsgrade und mehr Aufmerksamkeit als seriösere. Donald Trump ist ein gutes Beispiel dafür. Seine umstrittenen und oftmals aggressiven Botschaften über Twitter (neu X) entfalteten enorme Reichweite und wurden von Nachrichtenagenturen und Medienhäusern auf der ganzen Welt aufgegriffen und verbreitet. Auch das System der innerparteilichen Vorwahlen begünstigt Kandidierende, die eher extremere Positionen vertreten. Sie repräsentieren nicht unbedingt die Mehrheit der Parteiwählerinnen und ‑wähler, sondern vor allem die aktivsten und lautesten Parteivertreter, die jedoch die Vorwahlen entscheiden.

Ob die Demokraten die Wahlen noch gewinnen können, steht in den Sternen. Sie haben sich in eine veritable Sackgasse manövriert. Ob sie das noch rechtzeitig erkennen und sich auf einen Gegenkandidaten oder eine Gegenkandidatin einigen, ist unklar. Mit Biden werden sie die Wahl verlieren. Es ist Zeit für die alten Männer, loszulassen und Platz zu machen. (Raiffeisen/mc)

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