Im April vor drei Jahren wurde ich mitten in der Nacht durch ein lautes Krachen geweckt. Es hatte über Nacht für die Jahreszeit ungewöhnlich viel geschneit und da der Schnee im April meist nass und deshalb schwer ist, barsten die dicksten Äste des stolzen Ahorns im Hof und krachten mit einem Riesenbums auf den Vorplatz. Ich fürchtete schon, dies könne das Ende des so stolzen Baums bedeuten, dessen Baumkrone vor meinem Schlafzimmerfenster im 5. Stock Jahr für Jahr die Jahreszeiten inszeniert.
von Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen
Er dürfte gut und gern 25 Meter hoch sein und ist einfach nur schön. Zum Glück wurde er professionell wieder zurecht gemacht. Vor wenigen Monaten nun wurde ich früh morgens durch ungewöhnlich laute Geräusche aus dem Bett geholt. Ein Loch nach dem anderen wurde in unmittelbarer Nähe in Asphalt vor dem Haus gebohrt. Nach einer knappen halben Stunde war der Spuk vorbei. Als ich etwas später schliesslich das Haus verliess, wurde mir klar, wofür der ganze Lärm war. Ein frisches Baugesteck zierte den Hof.
Verdichtung lässt grüssen, war mein sofortiger Gedanke, nicht gerade glücklich über die Perspektive, bald eine Baustelle vor dem Haus zu haben. Aber Verdichtung ist nun mal nötig und ich unterstütze sie auch, ja, bin sogar ein vehementer Verfechter der diesbezüglichen Notwendigkeit, mit einer Ausnahme allerdings. Nicht vor meiner Haustüre und schon gar nicht, wenn dieser einzigartige Baum weichen muss. Ich müsste also Einsprache erheben, aber eben: man kann nicht Wasser predigen und Wein trinken. Und da ich mich schon allzu oft für die Notwendigkeit der baulichen Verdichtung ausgesprochen habe, kann ich jetzt schlecht Sankt-Florian-Politik betreiben, die sonst schon überall im Land der grösste Feind der baulichen Verdichtung ist.
Aber halt, da wäre ja noch eine weitere Möglichkeit. Ich könnte einen Verband, der sich dem Schutz grossgewachsener Bäume verschrieben hat, für mein egoistisches Anliegen instrumentalisieren und ihn animieren, Einspruch zu erheben. So müsste ich mich nicht outen und könnte das Bauvorhaben eventuell stoppen. Und wenn das schon nicht, dann könnte ich wenigstens ein Exempel statuieren und den Bauherren Ärger bereiten. Nun Sie ahnen es schon, das ist natürlich nur eine hypothetische Konstruktion von Gedankengängen. Aber andere spinnen genau ebensolche. Ich werde selbstverständlich nicht Einspruch erheben, auch wenn mir das Bauvorhaben etwas gegen den Strich geht.
Andere hingegen tun dies. Wir haben über die Jahre hinweg in der Schweiz eine recht ausgeprägte Kultur der Bauverhinderung bzw. Bauverzögerung herausgebildet. Das rasante Bevölkerungswachstum kontrastiert mehr und mehr mit dem knappen Gut Boden hierzulande. Verdichtung mag eine Antwort auf das Dilemma von Wirtschaftswachstum und Bodenknappheit sein, allerdings eine sehr schwache. Allein mit Verdichtung können wir nicht jährlich 50’000 neue Wohnungen bereitstellen, die es im aktuellen demographischen Szenario nun mal braucht. Ich kenne die Berechnungen, nach denen nur zwei Geschosse mehr im Bestand – oder gar nur ein Geschoss, je nach Quelle – das Problem der Knappheit lösen könnten. Aber das sind Gedankenspiele, die an der Realität bzw. an den oben beschriebenen Gehirnwindungen derjenigen, die in nächster Nachbarschaft einer geplanten Nachverdichtung wohnen, scheitern oder an einem fundamentalistischen Denkansatz Nichtbetroffener.
Wir haben in der Schweiz wohl eines der strengsten Bauregime. Grossüberbauungen gleichen einem Gang nach Canossa. Vorstudie bzw. Studienauftrag, Wettbewerb(e) Überbauungsplan, Gestaltungsplan sind nur einige der Hürden, welche heute genommen werden müssen, wenn man grössere Ersatzbauten im Siedlungsgebiet erstellen möchte. Öffentliche Mitwirkungsverfahren sind ebenso ein Muss, nicht selten auch nur darum, dass jeder noch seinen Senf dazugeben kann oder jegliche Bedenken äussern kann. Ich habe schon oft an solchen Übungen mitgewirkt und konnte mitverfolgen, was für abstruse Ideen u. a. bezüglich Nutzung und Gestaltung mit Neubauprojekten verknüpft werden, wie Denkmalschutz überspannt oder Naturschutz ad absurdum geführt wird.
Das Resultat ist immer dasselbe. Alles verzögert sich, nicht selten um Jahre und am Schluss schwenken die Landeigentümer oder Bauherren auf Normbauweise ein, um nicht noch weitere Einsprachen zu riskieren. Und jetzt will ausgerechnet die Stadt Zürich, deren Regierung nicht gerade den Ruf geniesst, sehr wachstumsfreundlich zu sein – es sei denn, es geht um erschwinglichen Wohnraum – extra hoch hinaus. Bis zu 250 Meter hoch sollen die Gebäude werden, die dereinst die neue Skyline von Zürich (West) entlang der Bahngeleise prägen sollen. Ob ich das noch erleben werde? Die Botschaft hört ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. (Raiffeisen/mc)
Apropos: das Thema beschäftigt mich schon länger; der Titel ist noch immer nahezu derselbe: «Nicht ganz dicht?».