Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Ostern 2020
Ja, es ist wohl so. Wir sollen weiter zu Hause bleiben und sollten unsere Verwandten und Bekannten nicht sehen, gemeinsam draussen etwas unternehmen, obwohl das Wetter so Appetit danach macht und Ostern, die sogenannt frohen, vor der Türe stehen? Genauso ist es, denn wir sind jetzt das was man systemrelevant bezeichnen könnte. Wir sind zwar nicht «too big to fail” aber “too many to fail”.
Das Fehlverhalten weniger kann zwar auch schon negativen Einfluss auf das Gemeinwohl haben, aber es ist die schiere Masse, die das System im jetzigen Pandemieszenario gefährdet. Aus diesem Grund sehen sich die Behörden gezwungen, sanften Druck auf unser Verhalten auszuüben. Hierzulande, anderswo geht es einiges autoritärer zu. In Indien beispielsweise prügeln Polizisten die Menschen auf offener Strasse mit Stöcken, wenn die sich nicht an die verordnete Ausgangssperre halten. So weit wird es hier nicht kommen, aber es gibt noch immer einige Unbelehrbare, denen ihre Systemrelevanz zu wenig bewusst zu sein scheint, wie die Wegweisungen, Bussen und Verzeigungen des Wochenendes belegen. Das ist nicht gut und lässt für die Ostertage nur hoffen, dass auch in diesen Kreisen die Vernunft einkehrt.
Wir sind bekanntlich an einem entscheidenden Punkt, wie uns die Entwicklung der Corona Epidemie vorzeigt. Die Anzahl der täglichen Neuansteckungen fällt seit gut einer Woche sichtbar. Eine wenigstens zaghafte Rückkehr zur Normalität scheint in Griffweite, Geduld bleibt aber der vorerst wichtigste Ratgeber. Jeder Tag wirtschaftlichen Stillstandes kostet die Schweizer Wirtschaft zweifellos Unsummen, die Zahl der Arbeitslosen nimmt rapide zu, aber eine verfrühte Entwarnung und ein rascher Rückfall in unsere alltäglichen Gewohnheiten könnte noch teurer kommen.
Wertschätzung
Bevor der Alltag wieder zurück ist, lohnt es sich daher, sich Gedanken zu machen über die Zeit nach Corona. Zeit dazu dürften wir momentan alle haben. So abgedroschen es nämlich klingen mag, es geht uns ja gut. Niemand hungert, jeder hat ein Dach über dem Kopf, die medizinische Versorgung ist gewährleistet, ebenso unsere sonstige Grundversorgung Wasser, Strom oder Gas. Und wir haben alle Zugang zum Internet. Ich bin nicht sicher, ob die Antwort auf die Frage, wer die Ostertage eher auf Familie als auf Internet/Smartphone verzichten würde, eindeutig für die Familie ausfallen würde. Sei’s drum, auf der Maslowschen Bedürfnispyramide befinden wir uns jedenfalls im internationalen Vergleich auch im Corona Ausnahmezustand immer noch weit oben. Das dürfen wir nie aus den Augen verlieren.
Wirtschaftliche Härten lassen sich in einer solchen Situation nicht gänzlich vermeiden, aber zumindest recht gut abfedern. Wir sollten auch darüber nachdenken, ob diejenigen unter uns, welche dafür besorgt sind, dass dies so ist, nicht mehr verdienen als etwas Applaus von den Balkonen oder respektvolle Huldigungen durch die Exekutive.
Wer ist denn jetzt am stärksten gefragt? Vor allem Menschen, die anderen helfen, sie unterstützen und dazu beitragen, dass unser Alltag nicht vollends aus den Fugen gerät. Die Krankenschwester, der junge Mann hinter der Kasse im Laden, seine Kollegin, die die Regale füllt, das Personal an den Kiosken, das Putzpersonal, das überall Desinfektionsmittel nachfüllt oder der Chauffeur, der uns Ware nach Hause liefert. Unzählige Berufe arbeiten weiter wie bisher, manche noch viel mehr als sonst, und versorgen den Rest der Zuhausegebliebenen in ihren Homeoffices oder der Homeschool und garantieren so den Alltag, wie der derzeit verordnet ist. In diesen Berufsgruppen befinden sich nicht viele Grossverdiener. Dabei ist ihr ökonomischer Wert offenbar hoch und sie sind erst noch hochgradig systemrelevant. Das hat uns diese Krise gezeigt. Dafür ernten die systemrelevanten Berufe heute zwar jede Menge Wertschätzung, Klatschen und lobenden Worte. Die ökonomisch richtige Anerkennung wäre aber Wertschöpfung und nicht Wertschätzung.
Ich wünsche Ihnen frohe Ostern und natürlich Gesundheit, die wir heute alle hoffentlich etwas anders wertschätzen als noch vor drei Monaten.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen