Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Qualen der Wahlen
Unser wichtigster Handelspartner Deutschland wählt am Sonntag eine neue Regierung. Nach 16 Jahren Mutti, wie Angela Merkel gern, wenn auch manchmal etwas verächtlich genannt wurde, tritt endgültig von der politischen Bühne ab. Von den amtierenden europäischen Regierungschefs sind aktuell nur Aljaksandr Lukaschenko, Präsident von Weissrussland, Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation sowie Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei länger im Amt. Eine gefühlte Ewigkeit geht damit in unserem nördlichen Nachbarland zu Ende.
Über Merkels Bilanz haben die Medien schon viel fabuliert. Ich denke, sie wird als deutsche Kanzlerin in die Geschichte eingehen, die vor allem etliche Krisen meisterte. Dazu zählen namentlich die Subprimekrise, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise und – wenn man so will – die Coronapandemie. Bei genauem Hinsehen kann zwar von Meistern keine Rede sein, meist fuhr Merkel einen übervorsichtigen und viel zu zögerlichen Schlingerkurs, aber das wird weniger in die Annalen eingehen. Ich würde ihr nicht den Titel einer Meisterin der Krise verleihen, sondern den Titel der Meisterin im Aussitzen von Krisen. Auch ein Verdienst, aber ein sehr viel bescheidener. Sei’s drum, die Ära Merkel ist nächste Woche Vergangenheit.
Und jetzt, da das Land eigentlich eine neue Epoche einläuten könnte, stehen die Wähler nicht vor einer Wahl, sondern eher vor einer Qual. Keiner der drei Kandidaten für das Kanzleramt überzeugt eine breite Mehrheit der Deutschen. Wohl maximal ein Viertel der Stimmen wird der (oder die) neue Kanzler(in) auf sich vereinen können. Merkel brachte es an der Bundestagswahl 2017 immerhin noch auf ein knappes Drittel der Stimmen, 2013 gar noch auf fast 42 %. Mehr Spannung gab es noch gar nie vor einer Bundestagswahl. Und wenn die Umfragen einigermassen stimmen, wird Deutschland einen Bundestag wählen, der noch nie so zersplittert war in der Nachkriegsgeschichte.
Deutschland schwenkt damit auf einen Kurs ein, der in anderen westeuropäischen Ländern längst Wirklichkeit geworden ist. Deutschland war eines der letzten Länder Westeuropas, in dem sich mit dem Einzug der AfD in den Bundestag ein rechtspopulistischer Flügel im Parlament etablieren konnte. Die beiden grossen Volksparteien CDU/CSU und die SPD haben abgedankt, die Machtfrage entscheiden nicht mehr sie (allein), sondern mittelgrosse oder kleinere Parteien. Das führt auch an der Wahlfront zu Kopfzerbrechen.
Denn allein wird keine Partei regieren können und damit weder Olaf Scholz, noch Armin Laschet, geschweige denn Annalena Baerbock. Es braucht eine Koalition, welcher Konstellation auch immer und darin liegt die eigentliche Qual der Wahl. Ich kenne treue FDP-Wähler, die dieses Mal erstmals der CDU die Stimme geben wollen, weil sie um jeden Preis verhindern wollen, dass es zu einer (höchstunwahrscheinlichen) rot-grün-roten Koalition (SPD, Grüne, Linke) kommt. Wer die FDP wählt, entscheidet sich nicht für den zukünftigen Kanzler, denn der könnte dann auch Scholz und nicht Laschet heissen, wenn es statt zu einer Jamaika-Koalition (von CDU (schwarz), Grünen und FDP (gelb)) zu einem rot-grün-gelben Bündnis kommt. Für Laschet selbst führt eigentlich nur ein Weg ins Kanzleramt, namentlich die Jamaika-Koalition. Das heisst aber, dass auch wer grün wählt, nicht Annalena Baerbock zur Kanzlerin küren wird, sondern eher Laschet oder eben Scholz. Alles komplizierter denn je mit einer und einer halben Ausnahme. Wer die AfD wählt, wählt die Opposition, wer die Linke wählt, wählt vielleicht doch nicht die Opposition, wenn sich am Ende gar rot, grün und links irgendwie zusammen raufen, wenn links überhaupt den Sprung in den Bundestag schafft, wonach es heute noch aussieht (Umfragewerte zwischen 6 % und 8 %).
Nach der Wahl die nächste Qual
Nach der Wahl wird also fast nichts entschieden sein, sondern nur, dass sich die stärkste Partei, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die SPD, auf Partnersuche begeben wird und neue bzw. alte Abgeordnete in den Bundestag einziehen werden. Danach könnte es aber richtig harzig werden. Wir erinnern uns. Vor vier Jahren dauerten Sondierungsgespräche zwischen den Parteien und die nachfolgenden Koalitionsverhandlungen fast ein halbes Jahr, konkret 172 Tage. Ich will es nicht verschreien, aber wahrscheinlich wird Mutti noch länger aussitzen müssen, als ihr lieb ist. Denn so lange bis sich die Parteien nicht auf einen Kanzler einigen können, bleibt sie im Amt.
Dabei wäre ein rascher Wechsel wichtig für Deutschland, denn Merkel hat schon zu viel liegen lassen, was dringend angepackt werden müsste. Sie hat weder eine langfristig orientierte aussenpolitische Strategie vorgelegt noch hat sie das Land für die Digitalisierung aufgerüstet. Auf den Ausstieg aus der Atomenergie folgte der Wiedereinstieg, die Klimapolitik war sowieso nie ihr Steckenpferd und sie liess sich allzu oft von der mächtigen Energie- und Autolobby einlullen. Gerade von Letzterer, die trotz Dieselgate und anderen Schmierereien immer noch den Mythos der Schlüsselindustrie pflegt. «Zackig» war mal so ein richtig deutsches Adjektiv, als Ausdruck für überlegt, aber auch schnell. Schnell geht es in Deutschland nur noch auf den (staufreien) Autobahnen zu. Auf den Datenautobahnen harzt es dafür gewaltig – besser gesagt – es geht gemässigt zu. Was für eine Qual, kein Internet bei 250 km/h. (Raiffeisen/mc)
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen