St. Gallen – Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, aktuelle Wachstumsschätzungen für die Schweizer Wirtschaft sind nicht sehr aussagekräftig, auch wenn sie von hochoffizieller Stelle, dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) stammen und medial entsprechend Beachtung finden. So wie gestern bzw. heute einmal mehr der Fall. Leider ist wieder nirgends von Schätzungen die Rede. Die Berichterstattung klingt jeweils so, als würde rückblickend Bilanz gezogen über das nun feststehende Wirtschaftsgeschehen im letzten Quartal, nachdem die Daten endlich verfügbar sind.
Die NZZ etwa verglich unmittelbar die Wachstumsraten der Schweiz mit denen in der EU bzw. den USA und konstatierte, dass im Euroraum oder den USA das Wachstum doppelt so stark gewesen sei als in der Schweiz. Keine Spur von Konjunktiv, im Gegenteil: die Zahlen werden einzeln heruntergebetet und interpretiert. Das gehört zweifellos zur Berichterstattungspflicht, aber mir fehlt der Hinweis darauf, dass die SECO-Zahlen lediglich eine vage Momentaufnahme darstellen, die noch lange nicht in Stein gemeisselt ist. Ganz im Gegenteil, in drei Monaten sieht bereits wieder alles ganz anders aus.
Die vermeintlichen Daten zur Wachstumsperformance der Schweiz entpuppen sich immer wieder als ziemlich vage. Selbst ein Vorzeichenwechsel im Rahmen einer Revision der Schätzungen im darauffolgenden Quartal kann nicht ausgeschlossen werden. Bis die nationale Buchhaltung einmal den Abschluss gemacht hat, sprich das Jahreswirtschaftswachstum definitiv feststeht, vergehen nochmals mindestens drei Quartale. Für das interessiert sich nur niemand mehr, denn das ist dann längst Schnee von gestern.
Wählen Sie das Vorzeichen selbst
Doch zurück zu den medial und analytisch überinterpretierten Quartalsschätzungen. Obwohl Schätzungen ungeeignet sind, um elementare Fragen beantworten zu können wie z.B., ob die Schweizer Wirtschaft den Frankenschock nun wirklich überwunden hat, werden sie regelmässig dazu missbraucht. Etliche Ökonomen und Politiker haben sich schon entsprechend geäussert, vielleicht mangels besseren Wissens über die Qualität der vorliegenden Schätzungen. Vor drei Monaten hiess es noch, die Dienstleistungsexporte seien im vierten Quartal 2016 leicht rückläufig gewesen (- 1.0%). Daraus wurde gestern nun ein Bombenresultat, neuerdings sollen es plus 10.4% gewesen sein. Dafür soll das zweite Quartal 2017 den Dienstleistungsexporten, zu denen auch der Tourismus gehört, statt dem bisher geschätzten Plus von 3.2% einen satten Rückschlag von Minus 9.3% beschert haben. Aus einem Dienstleistungsexportcrash Ende 2016 wurde so plötzlich ein Jahresendboom. Der Crash hat sich nach neusten Schätzungen dafür im ersten Quartal 2017 ereignet.
Auch beim Warenhandel oder den Dienstleistungsimporten sind die Korrekturen der Schätzungen derart massiv, dass deren Interpretationen auf höchst wackligen Füssen stehen. Vor drei Monaten noch schätzte das SECO für das erste Quartal 2017 die Dienstleistungsimporte stark zunehmend ein (+5.7%). Nun sollen es nur minus 0.5% gewesen sein. Im Warenhandel sind die Abweichungen von Quartal zu Quartal zwar nicht (immer) so extrem, aber auch zu stark – inklusive Vorzeichenwechsel -, um daraus so folgenreiche Schlüsse zu ziehen. Selbst das gesamte Wirtschaftswachstum kann mit einer Revision verschwinden, so nun geschehen, ebenfalls für das vierte Quartal 2016. Statt plus 0.2% waren es nun voraussichtlich minus 0.2%, gesamtwirtschaftliche Schrumpfung statt Wirtschaftswachstum also.
Datensalat statt Puzzleteile
Wer sich auch nur einmal vorzustellen versucht, wie verlässliche gesamtwirtschaftliche Daten in nützlichem Zeitraum gewonnen werden können, kann nur zu einem Schluss kommen. Das Unterfangen ist äusserst schwierig, ja fast unmöglich. Und doch verkaufen die meisten Medien die BIP-Quartalsschätzungen als bare Münze, was wohl auch daran liegt, dass die Schätzungen gar nicht erst hinterfragt, sondern einfach nachgebetet werden. Erhebung und Schätzung sind schliesslich sehr viel schwerer zu verstehen als die nackten Ergebnisse, so ungenau auch immer sie sein mögen. Jedes Quartal beim Erscheinen der aktuellen BIP-Schätzungen bin ich aufs Neue überrascht, was die Zahlenakrobatik wieder so hergibt. Sie ist leider dermassen verworren, dass es kaum möglich ist, eine realitätsnahe Beurteilung der Schweizer Wirtschaftslage vorzunehmen, zumal die Zahlen in drei Monaten auch schon wieder Geschichte sind. Und doch „puzzlen“ alle mit.
Scheinwirtschaft
Wir wüssten offenbar so gern, wie wir derzeit gesamtwirtschaftlich unterwegs sind, dass wir schlichtweg so tun, als wüssten wir es. Die Welt will eben ganz gern ein bisschen belogen werden. Niemand aus meinem durchaus wirtschaftsinteressierten Bekanntenkreis hat mich jemals auf den Schätzcharakter der BIP-Quartalsdaten angesprochen. Alle nehmen sie als Analyse des Istzustands und haben auch die eine oder andere Interpretation dafür parat. Und selbst für uns Prognostiker wird es schwer, die Datenbasis allzu stark zu hinterfragen, denn sie bilden schliesslich die Grundlage für sämtliche realwirtschaftlichen Prognosen zur Schweizer Wirtschaft, allen voran die Wachstumsprognosen.
Wie gut die wirklich sind, hat die Vergangenheit schon mehrfach gezeigt. Sie taugen maximal als Orientierungshilfe. Eins zu eins in die betriebliche Budgetierung würde ich sie aber kaum übernehmen. Da gibt es wahrlich bessere und erst noch vorlaufende Indikatoren. Wenn mir ein Taxifahrer einen Börsentipp gibt oder meine Schwester, die von Wirtschaft nicht viel versteht, sich fragt, ob sie einen Teil ihres bescheidenen Auslandsvermögens in Rubel anlegen soll, sind das recht aussagekräftige Indikationen. Nur leider nicht quantifizierbar und so auch kaum modellierbar. Die hochkomplexen makroökonomischen Modelle funktionieren aber nur, wenn man sie mit Daten füttert. Was dabei raus kommt, scheint manchmal nebensächlich, wenn man in wirtschaftswissenschaftlichen Journalen blättert. Dabei weiss jeder Volkswirt: „Garbage in heisst Garbage out“. Aber wenigstens ist das Modell super. Da verlasse ich mich lieber auf meine Intuition. Und die sagt mir: der Wechselkurs tut unvermindert weh.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen