Es brodelt unter der Erde von Island. Nach einer Serie von Erdbeben droht demnächst ein Vulkan auf der Halbinsel südwestlich der Hauptstadt Reykjavík auszubrechen. Ende Oktober haben die Erschütterungen begonnen. Die Erdbeben nehmen dabei an Stärke und Häufigkeit zu. Brodeln tut es auch in der Schweiz. Das Thema scheint dabei so alt wie die seismischen Aktivitäten in Island: die Zuwanderung.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen
Das Thema spaltet das ganze Land und verursacht Unmut. Bereits in der Vergangenheit hat das Thema hohe Wellen geschlagen. Nach der Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU im Jahre 2007 hatte die dadurch ausgelöste Einwanderungswelle zu einem Zustrom von per Saldo über 100’000 Ausländern in nur einem Jahr geführt. Zu viel für die Schweiz. Die Schweizerische Volkspartei (SVP), die ein gutes Sensorium für die Sorgen der Bevölkerung hat, lancierte im Juli 2011 eine Initiative zur Begrenzung der Einwanderung. Bei einer überdurchschnittlich hohen Stimmbeteiligung wurde die Initiative 2014 knapp angenommen. Bekanntlich wurde die Initiative mit einem geringfügigen Inländervorrang bei der Stellenbesetzung nur halbherzig umgesetzt, bewahrte damit aber die völkerrechtlichen Vereinbarungen (die Bilateralen) mit der EU.
Heute steht die Schweiz wieder an einem ähnlichen Punkt. Die Zuwanderung, die sich in den Jahren 2017–2019 auf einem Niveau von rund 60’000 Nettoeinwanderern zu stabilisieren schien, hat in den beiden Coronajahren 2020 und 2021 wieder zugenommen und steigt seither beschleunigt an. Per September des laufenden Jahres erreicht die Zahl der Nettozuwanderung aus dem Ausland bereits die durchschnittliche Gesamtjahreseinwanderung seit Beginn der Personenfreizügigkeit. Nun folgen noch die zuwanderungsstarken Monate Oktober und November. Bremst sich das Wachstum im letzten Quartal nicht noch unverhofft ab, dürfte die Nettozuwanderung im Jahr 2023 einen neuen Rekordwert von gegen 110’000 Personen erreichen. Sogar die Nettozuwanderung aus dem Spitzenjahr 2008 dürfte damit übertroffen werden.
Diese Rekordmeldung wird die Schweizer Bevölkerung in einem Zeitpunkt erreichen, wo der Eindruck bereits weit verbreitet ist, dass die Infrastruktur das Tempo der Zuwanderung nicht zu absorbieren vermag. Ich habe stets die Meinung vertreten, dass die meisten Schweizerinnen und Schweizer mit Blick auf den Arbeitskräftemangel in der Wirtschaft bereit sind, eine gewisse Zuwanderung zu akzeptieren, sofern sich die Zahl der Zuwanderer um rund 50’000 bis 60’000 bewegt. Nähert sich diese Zahl wie dieses Jahr jedoch dem Doppelten, wird es heikel. Die jüngsten Wahlergebnisse sind ein guter Beleg dafür und ein Warnschuss. Die SVP, die erneut die Zuwanderung zum Hauptthema ihres Wahlkampfes gemacht hat, hat deutlich an Wählerstimmen gewonnen.
Der Begriff Dichtestress wird heute zwar nur noch selten verwendet, doch viele Menschen sind vermehrt damit konfrontiert, dass die Infrastruktur überlastet ist. Trotz dem Phänomen Homeoffice sind beispielsweise die Nationalstrassen stärker überlastet als vor Corona. Gemäss dem Bundesamt für Strassen liegen die Staustunden heute 16 Prozent über dem Wert von 2019. Auch auf dem Wohnungsmarkt vermag das Angebot mit der Nachfrage nicht Schritt zu halten. Die Folgen sind starke Preisanstiege, die immer mehr Haushalte vom Erwerb von Wohneigentum ausschliessen. Auch Hochbezahlte mit einem Einkommen bis 300’000 Franken erfüllen im Kanton Zürich die Tragbarkeitsrichtlinien nicht mehr, um ein typisches Einfamilienhaus zu erwerben, weil ein solches mittlerweile über 3 Millionen Franken kostet.
Für die Situation ist nicht allein die Zuwanderung beziehungsweise der Siedlungsdruck verantwortlich. Hausgemachte Probleme wie ein nur halbdurchdachter Strategiewechsel in der Raumplanung haben zu einer wachsenden Wohnungsknappheit geführt. Diese hat sich zuerst auf dem Eigenheimmarkt manifestiert, macht sich mit dem Ende der Tiefzinsphase und dem gesunkenen Interesse institutioneller Anleger am Bau von Mietwohnungen nun aber verstärkt auch auf dem Mietwohnungsmarkt bemerkbar. Die Angebotsmieten steigen bereits mit knapp 4 Prozent. Die daraus entstehende Frustration in weiten Teilen der Bevölkerung findet in der Zuwanderung rasch einen Schuldigen.
Das Problem ist letztlich die Inkompatibilität unseres gesellschaftlichen Systems mit dem Tempo, das die Personenfreizügigkeit anschlägt. In der Schweiz dauert der Ausbau der Infrastruktur länger, weil das direktdemokratische System einzelnen Gruppierungen viele Einsprachemöglichkeiten einräumt. Eine fehlende strategische Weitsicht bei der Konzeption und dem Bau von Strassen, Wohnungen, Schulen, usw. mündet daher rasch in Knappheit. Problematisch an der Personenfreizügigkeit ist das völlige Fehlen eines Notbremssystems. Vorausgesetzt, die Arbeitsstellen wären vorhanden, könnten auch 200’000 Personen zuwandern, ohne dass dies zu verhindern wäre. Der Bundesrat ist gut beraten, über eine Steuerung der Zuwanderung nachzudenken. Tut er es nicht, könnte der Souverän – wie bereits 2014 – erneut die Notbremse ziehen.
Die SVP hat die nächste Masseneinwanderungsinitiative bereits aufgegleist. Die Initiative hat Sympathisanten weit über den Wählerkreis der SVP hinaus – all jene, denen das Tempo zu hoch ist und die in der Zuwanderungsfrage einen Marschhalt verlangen. Die Initiative hat damit reelle Chancen, angenommen zu werden. Bis sie circa 2025 zur Abstimmung gelangt, dürfte die Wohnungsknappheit ziemlich genau ihren Höhepunkt erreichen. Eine unheilvolle Koinzidenz. Im Gegensatz zur Masseneinwanderungsinitiative von 2011 dürfte die neue Initiative im Falle einer Annahme vom Parlament nicht mehr so einfach zu parieren sein. Im Kern verlangt die neue Initiative der SVP nämlich ausdrücklich die Kündigung der Personenfreizügigkeit mit der EU für den Fall, dass die Schweiz die Schwelle von 10 Millionen Einwohnern, gemessen an der ständigen Wohnbevölkerung, überschreitet. Dies dürfte noch vor dem Jahr 2040 eintreten. Die Masseneinwanderungsinitiative von 2011 enthielt dagegen keinen verbindlichen Auftrag, das Freizügigkeitsabkommen mit der EU zu kündigen. Damit drohen die Verhandlungen für ein Rahmenabkommen mit der EU – sofern sie denn erfolgreich sind – letztlich doch wieder in einem Scherbenhaufen zu enden. Für die Schweizer Wirtschaft wäre das schlimmer als ein Vulkanausbruch. (Raiffeisen/mc)