Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Samthandschuhe ausziehen

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Samthandschuhe ausziehen
Fredy Hasenmaile, Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. (Bild: Raiffeisen)

An den Finanzmärkten wird viel Geld investiert. Entsprechend gross sind die Anreize, das eigene Unternehmen möglichst positiv in den Bilanzzahlen darzustellen. Obwohl ein Franken ein Franken ist und die Buchhaltung eine staubtrockene Disziplin, haben die Unternehmen dennoch einen nicht unerheblichen Spielraum, ihre wirtschaftliche Situation in den Jahresabschlüssen besser darzustellen.

Die Aufblähung von Einnahmen, die Senkung von Abschreibungskosten, die Verzögerung von Ausgaben oder die Überbewertung des Lagerbestands sind nur einige Beispiele dafür. Zuweilen können die Unternehmen den Verlockungen nicht widerstehen und überschreiten das Mass des gesetzlich Zulässigen. An dieser Stelle kommen die Wirtschaftsprüfgesellschaften ins Spiel. Sie agieren als unabhängige Prüfer, die die Finanzberichte von Unternehmen untersuchen, um deren Richtigkeit und Gesetzmässigkeit sicherzustellen.

Für ein effizientes Finanz- und Wirtschaftssystem kommt den Prüfern daher eine eminent wichtige Rolle zu. Sie sind die Wächter der Transparenz und Garanten für das Vertrauen in die Bilanzkennzahlen. Doch auch die Wirtschaftsprüfer sind diversen Verlockungen ausgesetzt und vor Fehlern nicht gefeit. Da sie die geprüften Unternehmen kraft ihrer Prüffunktion sehr gut kennen, bieten sie diesen auch lukrative Beratungsleistungen an. Dadurch entstehen jedoch Interessenkonflikte, in deren Folge die Prüfgesellschaften die nötige Strenge bei der Überwachung und der Revision der Jahresabschlüsse ihrer Kunden vermissen lassen. So ist es in der Vergangenheit wiederholt zu spektakulärem Versagen der Wirtschaftsprüfer gekommen. Es ist daher an der Zeit, dass die Behörden ihre Samthandschuhe im Umgang mit den Prüfgesellschaften ausziehen.

Einer der bekanntesten und verheerendsten Fälle war der Enron-Skandal im Jahr 2001. Enron, ein US-amerikanischer Energiekonzern, hatte über Jahre hinweg seine Bilanzen massiv manipuliert, um ein erfolgreicheres Bild des Unternehmens zu zeichnen. Arthur Andersen, der zuständige Wirtschaftsprüfer, versäumte es, diese Manipulationen aufzudecken, und war sogar aktiv an der Vernichtung belastender Unterlagen beteiligt. Der Skandal führte nicht nur zum Zusammenbruch von Enron, sondern auch zum Ende von Arthur Andersen, einer der damals fünf grössten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften weltweit.

Kritisiert wird die Rolle der Prüfer auch beim folgenschweren Untergang von Lehman Brothers im Zuge der Finanzkrise im Jahr 2008. Der Wirtschaftsprüfer EY hatte die Finanzberichte von Lehman Brothers über Jahre hinweg abgenickt, ohne die immensen Risiken zu bemerken oder darauf hinzuweisen. Insbesondere für das Versäumnis, die «Repo 105»-Geschäfte angemessen zu hinterfragen, wurde EY stark kritisiert. Mit diesen Geschäften entfernte die amerikanische Investmentbank jeweils kurz vor Quartalsende Verbindlichkeiten aus der Bilanz und senkte damit künstlich die Verschuldungsquote. Da die Bank gleichzeitig Verpflichtungen einging, die Verbindlichkeiten nach Quartalsende wieder zurückzukaufen, hätte sie diese korrekterweise als Finanzierungen verbuchen müssen. Allerdings wurde EY in diesem Zusammenhang nie gerichtlich verurteilt. EY einigte sich 2013 mit Investoren und bezahlte USD 99 Millionen. Zudem schloss EY 2015 einen Vergleich mit dem Bundesstaat New York. Der Fall hatte jedoch das Vertrauen in die Prüfgesellschaft und den Glauben an deren Unabhängigkeit in Mitleidenschaft gezogen.

Weniger glimpflich dürften für EY wohl deren Unterlassungen im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des deutschen Zahlungsdienstleisters Wirecard im Jahr 2020 ausgehen. Jahrelang hatte Wirecard seine Bilanzen massiv manipuliert. Trotz wiederholter Warnungen und Hinweise auf schweren Betrug testierte EY die Abschlüsse von Wirecard über rund zehn Jahre, ohne die Fälschungen zu erkennen. Warnsignale, insbesondere zu ausgelagerten Zahlungsdienstleistungen durch Dritte, gab es zahlreiche, doch diesen ging der Buchprüfer aus ungeklärten Gründen nicht nach. Exakt identische Transaktionsvolumina 2016 und 2017 in den Geschäftsbüchern dieser Drittparteien wurden beispielsweise bemerkt, doch lösten solche alarmierenden Signale keine weiteren Prüfungshandlungen bei EY aus. Genauso wenig nicht existente Vertragspartner oder angebliche Topkunden, die Wirecard nicht mal kannten. Sogar plumpe Fälschungen vermochte EY nicht als solche zu erkennen. Das Aus für Wirecard kam erst, als eine Sonderprüfung durch KPMG keine ausreichenden Nachweise über die Existenz von Bankguthaben auf Treuhandkonten in der Höhe von EUR 1,9 Milliarden ermitteln konnte.

Der jüngste Skandal betrifft den Wirtschaftsprüfer PwC, dessen Geschäft in China ein sechsmonatiges Geschäftsverbot droht. Dem Buchprüfer werden schwerwiegende Fehler bei der Prüfung der Bilanz des zusammengebrochenen zweitgrössten chinesischen Immobilienunternehmens Evergrande vorgeworfen. Die chinesische Wertpapieraufsicht hegt den Verdacht, dass Evergrande seinen Umsatz über einen Zeitraum von zwei Jahren bis 2020 massiv betrügerisch aufgeblasen hat.

Die Rede ist von USD 78 Milliarden, die nicht vorhanden waren. Bis Anfang 2023 hat PwC die Abschlüsse von Evergrande 14 Jahre lang ohne Bedenken testiert. Mit dem drohenden Geschäftsverbot will die chinesische Behörde härter gegen Wirtschaftsprüfer vorgehen. Zudem fordern die Behörden staatliche Unternehmen auf, die Zusammenarbeit mit PwC zu beenden. Die Auswirkungen für PwC sind beträchtlich und dürften zu hohen Einnahmenverlusten und Entlassungen führen.

Bereits im April 2023 hatte die deutsche Wirtschaftsprüfungsaufsicht APAS den Buchprüfer EY wegen dessen Rolle im Wirecard-Skandal mit einem zweijährigen Neuannahmeverbot für Prüfmandate von Unternehmen von öffentlichem Interesse sowie einer Geldbusse von EUR 0,5 Millionen belegt. Die chinesische Behörde dürfte nun weit darüber hinausgehen. Sie will nicht nur das Neugeschäft, sondern während der Zeit des Banns auch jegliche Zertifizierung von Abschlüssen verbieten. China scheint gewillt, eine härtere Gangart gegenüber Wirtschaftsprüfern einzuschlagen.

Es ist an der Zeit, dass die Behörden weltweit schärfer gegen fehlerhafte Buchprüfer vorgehen. Die aufgedeckten Skandale haben zahlreiche Schwächen in den Strukturen und Praktiken der Wirtschaftsprüfung offengelegt. Ein zentraler Kritikpunkt ist die mangelnde Unabhängigkeit der Wirtschaftsprüfer. Ein weiteres Problemfeld ist die oligopolartige Struktur des globalen Wirtschaftsprüfungsmarktes. Die «Big Four» dominieren den Markt nach Belieben, wodurch sie nachlässig geworden sind und fehleranfällig. Ein Beispiel mehr dafür, dass mangelnder Wettbewerb schlecht für die Wirtschaft ist. (Raiffeisen/mc)

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