Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Zwar sind die Flüchtlinge nicht mehr täglich auf den Titelseiten der europäischen Gazetten, aber sie beschäftigen Europa weiter. Und wer dachte, dass die Türkei dazu verhelfe, den Knoten zu lösen, muss wohl einsehen, dass auch dieser Versuch zum Scheitern verurteilt sein dürfte. Die Bilder aus Chios sprechen noch immer eine klare Sprache. Das Ziel der dort Gestrandeten ist Europa und nicht die Rückführung in die Türkei. Selbstverständlich spielt die Türkei eine wichtige Rolle in der ganzen Thematik. Diese Rolle ist aber vornehmlich geografisch begründet, denn die Türkei liegt nun mal genau im Vorzimmer Europas. Von einer Lösung der Flüchtlingsproblematik ist Europa auch nach dem Deal mit der Türkei meilenweit entfernt.
Das Ganze entpuppte sich schon rasch mehr als Show denn als Lösung. Darüber hinaus hat man nun mit dem türkischen Präsidenten Erdogan einen Partner, der seine Zuverlässigkeit erst unter Beweis stellen muss, sicher keine Geschenke macht und eher sogar ein lukratives Geschäft hinter dem Deal mit Europa wittert. Das verheisst nichts Gutes. Das Vorgehen ist leider symptomatisch für die Art, wie Europa schwer wiegende Probleme auf die lange Bank schiebt. Ein grosser Wurf ist dieser Staatengemeinschaft lange nicht mehr gelungen.
Anschauungsunterricht dafür erhielten wir in der europäischen Schuldenkrise. Von Griechenland war jahrelang kaum die Rede. Das kleine Land am südöstlichen Zipfel der Eurozone war bekannt als Urlaubsort und sogenannte Wiege der Demokratie mit einer Hochkultur, die in einem historischen Kontext sicherlich Hervorragendes geleistet hat. Bis dort aus heiterem Himmel die Schuldenkrise ausbrach und Europa an den Rand eines finanziellen GAU brachte.
Es ist noch kein Jahr her, dass Griechenland die Märkte erneut erschütterte. Damals glichen die Monate vor dem Showdown im Juli 2015 der sprichwörtlichen Ruhe vor dem Sturm. Die Finanzmärkte ignorierten weitgehend, dass Griechenland nicht in der Lage sein würde, die fälligen IWF-Tranchen zu bedienen, bis es schliesslich so weit war. Dann aber zückten die Märkte ohne Vorwarnung die rote Karte, was die europäische Politik zu hektischem Tun zwang. Eigentlich ist allen klar, dass auch der Durchbruch in der Griechenlandfrage 2015 nur ein vermeintlicher war, der Sommer wieder näher rückt und eine Wiederholung des Schauspiels aus dem Vorjahr nicht unwahrscheinlich ist.
Skeptische Märkte
Auch wenn die Griechenlandfrage die Märkte heute nicht kümmert, wird sie schon bald zur Nagelprobe. Und sie könnte dieses Jahr einiges härter ausfallen als vor einem Jahr, denn erstens haben sich die globalen Rahmenbedingungen – Wachstum, Inflation oder die Beschäftigung speziell in Europa – kaum verbessert und zweitens werden die Briten die europäische Diskussion im Vorfeld der Brexit-Abstimmung vom 23.6.2016 zusätzlich anheizen. Im Vorfeld der Abstimmung dürften die Märkte ihrer Skepsis Ausdruck verleihen. Und sollten die Briten sich tatsächlich für den Brexit aussprechen, dann wird dies kein lokaler oder regionaler Event sein, sondern am Fundament des Euros rütteln. Denn im Grunde ist jedem klar, dass der Euro eine Währung ist, deren Fortbestehen nicht in ihrer wirtschaftlichen Logik liegt, sondern einzig vom Willen der Politik abhängt, mit Schützenhilfe der EZB.
Pendenzen abarbeiten
Dass die Aktienmärkte nicht richtig vom Fleck kommen, hat viele Gründe, die hier seit dem letztem Sommer, als Sand ins Getriebe kam, wiederholt zur Sprache kamen. Die Zweifel am chinesischen Wachstum(smodell), Bedenken, dass der amerikanischen Konjunktur der Schnauf ausgeht, bevor es auch nur zu einer annähernden Normalisierung der Zinslandschaft gekommen ist und der Ölpreiszerfall, den der Markt inzwischen eher als Bürde statt Entlastung interpretiert, sind die wichtigsten Gründe – und: dass die Geldpolitik an Grenzen stösst. Diese Themen sind längst noch nicht abgearbeitet worden und keimen wiederholt auf, ganz abgesehen von den geopolitischen Verwerfungen, die der Markt tendenziell vernachlässigt.
Mit der latenten Gefahr eines Brexit und einer absehbaren Neuauflage der endlosen griechischen Tragödie kommt bald noch mehr Unbill auf, der die Märkte zusehends in ihren Bann ziehen dürfte. Ein Showdown im Sommer kann heute nicht ausgeschlossen werden und deshalb haben viele Investoren den Tradern das Spielfeld überlassen und warten an der Seitenlinie.
Was hat das nun mit der Türkei und den Flüchtlingen zu tun? Ganz einfach: wenn der Euro eine Währung ist, die ihre Legitimation einzig aus Überlebensparolen der Politik speist und nicht aus wirtschaftlicher Logik, dann wird dieser politische Wille sehr bald schon wieder auf dem Prüfstand stehen. Dass der Wille allein für den Euro nicht der Weg ist, haben die Märkte schon länger begriffen. Die Flüchtlingskrise fordert nun aber diesen politischen Willen zur Einheit und die EU ist auf dem besten Weg, an der Flüchtlingskrise zu scheitern, da Einzelinteressen der E(W)U-Staaten den gemeinsamen Weg verbaut haben. Allein schon dass die EU ausgerechnet die Türkei als entscheidenden Wegweiser Richtung Pfad aus der Krise identifiziert und als sicheren Drittstaat identifiziert, ist eine Bankrotterklärung der europäischen Politik.
Das Peter Prinzip
Das ist das Peter Prinzip in Urform: wenn die höchste Stufe der Inkompetenz einmal erreicht ist, helfen nur Hilferufe. Laurence J. Peter zufolge neigen wir dann dazu, elementare Entscheidungen, zu denen wir nicht(mehr) fähig sind unter anderem auch auszulagern. Genau das passiert heute in der EU. Wenn diese Staatengemeinschaft aber nicht einmal in der Lage ist, einen tragfähigen Konsens in der Flüchtlingsfrage zu etablieren, wie will sie dann den nächsten Sturm auf den Euro bewältigen? Mit Durchhalteparolen und postulierter Alternativlosigkeit kaum. Genau das haben die euroskeptischen Briten längst begriffen, nur der Markt noch nicht, denn sonst würde der britische Pfund kaum so schwach notieren. Der Sommer wird mit Sicherheit heiss, vielleicht gar noch heisser als der bisherige Rekordsommer 2015. Und Hitze fördert Gewitter, das wissen auch die Investoren.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen