Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Schulden erhöhen Wahlchancen

Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Schulden erhöhen Wahlchancen
von Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)

St. Gallen – In längst vergangener Zeit wurden Regierungen noch daran gemessen, wie sorgsam sie mit dem ihnen anvertrauten Geld umgingen. Der öffentliche Haushalt war das Thema überhaupt und die jährliche Budgetrunde ein Spiessrutenlauf durch die Legislative, dazu stets ein Streitpunkt zwischen linkem und rechtem Politlager. In Kerneuropa war der Exekutive besonders bewusst, dass die Steuerzahler jeweils ein sehr scharfes Auge darauf richteten, was mit ihrem Geld geschieht. In vielen westlichen Volkswirtschaften wurde deshalb darauf geachtet, dass die Schulden nicht aus dem Ruder liefen. Denn jeder wusste: irgendwann müssen die Schulden auch beglichen werden. Regierungen, die zu viel Schulden anhäuften, wurden damals noch abgewählt.

Schulden sind salonfähig
Die Maastrichter Kriterien waren genau deshalb verabschiedet worden; um der Schuldenwirtschaft Einhalt zu gebieten und natürlich als vertrauensbildende Massnahme für das Experiment der Währungsunion. Schulden waren Last und Pein zugleich, deren Rückzahlung oberstes Gebot. Unseriös haushalteten höchstens korrupte, wenig vertrauenserweckende Regimes der damals Neuen Welt – namentlich in Mittel- und Südamerika oder Südostasien – und vielleicht noch die Weichwährungsländer der europäischen Peripherie. Unsere dem Staat gegenüber traditionell skeptischen italienischen Freunde, die wir jedes Jahr zwecks Urlaub besuchten, sagten damals schon, man dürfe den Politikern sein Geld nicht anvertrauen. Die gäben es gleich doppelt aus. Deutschland oder die Niederlande, aber auch unser Land waren dagegen ein Hort der Finanzstabilität. Die Deutsche Mark oder der holländische Gulden waren vor ihrer Verweichlichung durch die Währungsunion ähnlich hart wie der Schweizer Franken. Doch heute sind Schulden fast überall salonfähig, fast schon normal. Und Rückzahlung ist zu einem Fremdwort geworden, hohe Überschüsse sind verpönt und ziehen sofort Forderungen verschiedener politischer Anspruchsklassen nach sich. Heute spricht man von tieferer Neuverschuldung, von Schuldenkonsolidierung, von tieferen Defiziten (!) oder von ausgeglichenen Primärhaushalten und immer wieder von Nachtragshaushalten. Die Schuldenmacher sind in ihrer Wortwahl durchaus kreativ.

Prinzip Hoffnung
Maastricht wurde zwar schon vor der Finanzkrise aufgeweicht oder gar nicht erst befolgt. Aus dem Ruder lief die Entwicklung aber mit den Aufräumarbeiten 2009 im Nachgang der Krise. Auf amerikanisches Geheiss stemmten sich die Regierungen der Industrieländer mit aller Wucht gegen die befürchtete Wiederholung einer Depression, wie sie Ende der Zwanzigerjahre ausgebrochen war und die Dreissigerjahre dominiert hatte. Man wollte erst gar nicht warten, ob es annähernd so schlimm kommt, koste es, was es wolle. Denn dann wäre so manche regierende Partei bei den nächsten Wahlen kaum mehr bestätigt worden. Auch Deutschland geriet damals auf Abwege, wogegen sich Noch-Finanzminister Schäuble nur wenig zu wehren vermochte. Genauso wenig, wie gegen den Bailout Griechenland oder den Europäischen Rettungsschirm für die GIPSI-Staaten. Nach kurzem taktischem Geplänkel schwenkte Merkel rasch auf die Linie der schnellen Brandlöscher. Auch ihr war die Sympathie der Wähler wichtiger als die langfristige finanzpolitische Stabilität, die ohnehin alle aus den Augen verloren hatten. Und da alle dasselbe taten, konnte man die Defizite umso massloser ausdehnen. Das brachte dann einen kurzen Rebound des Wachstums im Jahr 2010, doch der schnell auslaufende Basiseffekt mündete schliesslich in die europäische Schuldenkrise 2011. Die Staatschulden gemessen am BIP schnellten in Deutschland von knapp 65% Ende 2007 auf 83.4% Ende 2010. Die Maastricht-Kriterien waren damit endgültig zu Grabe getragen. Gut zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise lasten so viele Schulden auf den Volkswirtschaften der Welt, wie noch nie in deren Geschichte. Und die Börse eilt trotzdem von einem Hoch zum anderen. Vor allem in den USA, wo Trump nun doch noch die Steuern kappen möchte, ohne eine Idee, wie die dadurch entstehenden Löcher im Haus-halt gestopft werden können. Der Beifall der Finanzmärkte ist ihm gewiss. Das Prinzip lautet Hoffnung. Hoffnung auf Inflation und Wachstum und die Zukunft. Nur eben: die Zeiten sind anders.

Unschuldig überschuldet
In den wohlhabenden Industrieländern sind die Wachstumspotenziale derweil so zusammengeschrumpft, dass die Schuldenproblematik kaum zu entflechten ist, ohne Einschnitte vorzunehmen, wo und welcher Art auch immer. Damit wird aber eine Verteilungsdebatte ausgelöst, welche die Exekutive nur ungern führt, geschweige denn einläutet. Dem Volk zu erklären, den Gürtel enger schnallen zu müssen, ist heute kaum wo mehr auf der Agenda. Und gerade in Europa sorgt die EZB bekanntlich dafür, dass es gar nicht erst soweit kommen muss. Dasselbe gilt für die Geldpolitik in Japan oder in den USA, die den Regierungen endlos Zeit verschafft. Aber nicht etwa, um die Schulden zu begleichen, sondern höchstens um sie zu verwalten. Das genügt gerade mal knapp, um den Wohlstand und das System der Schuldenwirtschaft zu halten. Zumindest für uns reicht es ja noch. Die Töchter und Söhne Japans erben aber keinen Wohlstand, sondern Schulden, die mehr als zwei Mal so hoch sind, als ein durchschnittliches Jahreseinkommen. Die Jugend in Griechenland, Italien, Portugal oder Belgien müssten ein Jahr lang gratis arbeiten, damit sie wieder frei von Schulden wären. Eventualverpflichtungen der Rentenversicherungen sind da noch nicht einmal eingerechnet. Von wegen unschuldige Kinder, frei von jeder Schuld sind sie schon bei Geburt nicht mehr. Und das nur, weil wir alle über unsere Verhältnisse leben und Sparen eine Untugend geworden ist. Da machen wir der Jugend nichts vor – unserer Zukunft. (Raiffeisen/mc/ps)

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