Mein Junior hat es nicht so mit Mathematik. Wiederholt scheitert er an den einfachsten Aufgaben und fast jeder Versuch, ihm unter die Arme zu greifen, schlägt fehl. Spielerisch geht es gerade vielleicht noch so einigermassen – für ein paar Kopfrechenübungen unterwegs ist er manchmal sogar ganz empfänglich. Sobald er sich aber unter Druck gesetzt fühlt, geht gar nichts mehr. Dann passieren ihm die dümmsten Fehler, selbst das Einmaleins ist dann manchmal schon zu viel.
Das ist nicht ganz einfach für mich, denn ausgerechnet Mathematik war eines meiner beliebteren Fächer, allerdings auch erst in der Oberstufe. Vielleicht geht der Knoten bei ihm ja auch noch auf. Seine Stärken liegen zumindest heute zweifellos anderswo und für seine derzeitigen Berufswünsche, die, weil auch ein wenig Träume, ich hier lieber nicht zum Besten geben möchte, ist Mathematik zwar nicht gänzlich verzichtbar, aber gehört auch nicht zu den dort gefragten Kernkompetenzen, genauso wenig wie Statistik. Doch es gibt wohl kaum einen Beruf, in dem Zahlen und Statistiken überhaupt keine Rolle spielen. Der Umgang damit will daher gelernt sein. Das ist allerdings nicht jedermanns Sache.
Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) ist Teil des Eidgenössischen Departements des Inneren (EDI) und verantwortlich für die Gesundheit der Bevölkerung. Es entwickelt die schweizerische Gesundheitspolitik und setzt sich für ein langfristig leistungsfähiges und bezahlbares Gesundheitssystem ein. So lauten offizieller Auftrag und Ziele des Amtes, zu finden auf der hauseigenen Homepage. Mathematik gehört demnach kaum zu einer Kernkompetenz des BAG und Statistik wohl auch nicht zwingend. Für letztere gibt es bekanntlich ein eigenes Bundesamt, das ebenfalls im EDI angesiedelt ist. Mit Zahlen und Statistiken muss sich das BAG dennoch befassen und zwar nicht knapp. Es sammelt Kennzahlen jeder Art, zu Berufen im Gesundheitswesen, zu Demenz, Alkohol-, Tabak- oder Cannabissucht, zu Krankenversicherungen, Spitälern, Fortpflanzungs- und Transplantationsmedizin und vielem mehr, unter anderem auch zu Infektionskrankheiten.
Dieser Vielfalt sind sich viele hierzulande wahrscheinlich gar nicht bewusst. Für die Überwachung von Infektionskrankheiten ist die Meldepflicht zentrales Element gemäss dem Grundsatz, „wer diagnostiziert, der meldet“. Das ist auch im Fall von Covid-19 nicht anders, wobei hier insofern Neuland beschritten wird, als die aktuelle Verbreitung – Stichwort Pandemie – alles Bisherige sprengt und die Tragweite von Covid-19 weitaus erheblicher ist als die der meisten Infektionskrankheiten.
Tests schaffen Gewissheit…
Das statische Monitoring von Covid-19 wird dessen Tragweite leider auch ein halbes Jahr nach dem Ausbruch von Corona nicht annähernd gerecht und es ist immer weniger nachvollziehbar, dass wir noch immer dermassen im Dunkeln tappen. Umso mehr wo doch ein breiter Konsens darüber besteht, dass die Verbreitung des Virus unbedingt eingedämmt werden muss.
Die Intransparenz oder bisweilen Unkenntnis öffnet Spekulationen aller Art Tür und Tor. Maskenleugner, „Verharmloser“ oder Dramaturgen, Verschwörungstheoretiker, jedes Lager kann aus den wenig aussagekräftigen Daten derzeit Stoff für abenteuerliche Argumentationen beziehen. Es gibt nur eine Abhilfe, wie schon letzte Woche hier ausgeführt. Wir brauchen dringend eine statistisch repräsentative Stichprobe zu Covid-19. Testen, testen, testen muss daher die Devise lauten. In einer kleinen aber hochentwickelten Volkswirtschaft wie der unsrigen stellt das keine unüberwindbare Hürde dar. Wir haben die Mittel und die Masse ist begrenzt. Bereits Mitte April hatte sich eine breite Allianz aus Wissenschaft und Wirtschaft für mehr Tests stark gemacht.
Seit dem 25. Juni übernimmt der Bund zudem sämtliche Kosten für Coronatests. Er vergütet den Test mit einer Pauschale von 169 Franken, was vorübergehend einen (willkommenen) Anstieg der Testzahlen auf über 10‘000 pro Tag zur Folge hatte. Doch mittlerweile liegen wir schon wieder deutlich unter 8‘000, jüngst sogar deutlich unter 6‘000 Tests pro Tag. Am 3.8.2020 lag das Total durchgeführter Test bei 803‘725. Notabene werden Tests gezählt und nicht getestete Personen. Eine Person kann auch mehrere Tests gemacht haben.
…aber nicht für alles
Die Coronatests sollten primär dazu dienen, Klarheit über die quantitative Verbreitung des Virus zu schaffen. Wer nun denkt, dass die Tests auch geeignet sind, den genauen Ort bzw. das wie der Ansteckung zu identifizieren, irrt – und zwar gewaltig. Es war zwar gelinde gesagt nicht gerade geschickt, dass das BAG letzte Woche – auf Anfrage des Schweizer Fernsehens (SRF) notabene – entsprechende Zahlen kommunizierte. Es fragt sich aber auch, wieso unser Staatsfernsehen genau über diesen „Nebenkriegsschauplatz“ Auskunft verlangte und vor allem, weshalb SRF nicht die lächerlich kleine Stichprobe (629) sowie den entscheidenden Passus im COVID-19-Meldeformular, wo es heisst „Wahrscheinlichster Übertragungsweg“ kommentierte und so die Aussagen entsprechend relativierte. Wollte man hier jemandem einen schwarzen Peter zu spielen? Schliesslich fühlten sich sehr viele hierzulande intuitiv bestätigt, als Clubs oder Discotheken bei der Frage nach dem Übertragungsweg so weit oben aufpoppten. Dass Stichprobe und Methodik, um solche Schlüsse zu ziehen, nicht geeignet waren, fiel niemandem auf. Die Ergebnisse wurden anstandslos widergegeben.
Wer lernt, macht Fehler
Der Shitstorm, der danach über das Land fegte, war unverhältnismässig. Natürlich ist ein Bundesamt eine Institution, die vom Vertrauen lebt und deshalb akribisch und gewissenhaft ihren Dienst verrichten sollte. Angesichts dessen, wie wenig wir selbst heute noch über das Virus wissen, ist der Ort der Ansteckung aber sicherlich nicht die wichtigste Information. Seine Evaluierung gehört auch nicht zwingend zu den Kernkompetenzen des BAG. Auch die neuen Zahlen – von wegen Familie – taugen genauso wenig. Dort wird das Virus schnell verbreitet, aber das Virus aufgelesen hat sich ein Familienmitglied ausserhalb der Familie. Wichtigere Fragen sind dafür heute noch unbeantwortet.
Sind Kinder Infektionsherde? Was ist dran an der Herdenimmunität? Wie beständig sind Antikörper? Wie hoch ist die Seroprävalenz? Wie hoch ist die Dunkelziffer, also der Prozentsatz sogenannt stiller Träger des Virus ohne Symptome? Die Antwort können nur Tests geben, je mehr desto aussagekräftiger. In einem Lernprozess müssen auch Fehler zulässig sein, zumindest kleine Fehler und um mehr handelte es sich nicht. Die „falsche“ Statistik war nicht mehr als ein Tropfen auf den heissen Stein. Wer ein bisschen logisch denkt und gesunden Menschenverstand walten lässt, der wird unweigerlich zum Schluss kommen, dass Clubs und Discotheken sehr wohl ein überdurchschnittliches Risiko für eine Ansteckung bedeuten. Social Distancing beim Schwofen auf der Tanzfläche oder beim Flirten an der Bar sind pure Antagonismen, umso mehr, wenn dann noch Alkohol im Spiel ist oder gar Drogen. Dafür braucht es keinen statistischen Beweis. Der Kanton Genf hat das begriffen.
Die geharnischte Reaktion auf die „falschen“ Zahlen hat sehr wahrscheinlich einen anderen Grund. Politik und die breite Öffentlichkeit sind zusehends Corona-müde, fühlen sich eingeschränkt und bevormundet und suchen ebenfalls einen schwarzen Peter, den sie nun im BAG gefunden haben. Auch die Kantone schieben ihre Verantwortung gerne mal dem Bund weiter, weil sie ungern für unangenehme und unbequeme Beschränkungen den Kopf hinhalten möchten. Der schwarze Peter hat nur leider keinen Plural, dabei haben fast alle von uns einen dunklen Fleck auf der Nase.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen