Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Schwarzer Schwan plant langen Aufenthalt

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Schwarzer Schwan plant langen Aufenthalt
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Der Wochenstart am Montag war für Wallstreet ein beispielloser Tag. Nur wenige Minuten nach Eröffnung der Börsensitzung hatte der Dow Jones-Index bereits 2000 Punkte abgegeben, ein Verlust von sieben Prozent. Als ob die Ausbreitung des COVID-19 Virus nicht schon genug wäre, sackte am Montag auch noch der Ölpreis um über 20 Prozent ab, nachdem sich Russland und Saudi-Arabien heftig um Fördermengen stritten und die Saudis darauf den Ölmarkt fluteten. Das musste nicht auch noch sein, sagten sich die Börsianer und gaben im grossen Stil Aktien ab.

Am Bondmarkt gerieten die Renditen unter Druck. Die 10jährigen Eidgenossen rentierten unter 1% und 10jährige US-Treasuries noch bei 0.5%. Gleichzeitig legte der Franken wieder zu. Vorübergehend kostete er nur noch 1.05 Euro und die Schweizerische Nationalbank dürfte nicht nur Gewehr bei Fuss gestanden, sondern am Markt auch interveniert haben. Das bekannte Krisenmuster der letzten Jahre im Zeitraffer sozusagen.

Kalt erwischt
Die Welt wurde vom Coronavirus kalt erwischt. Es wurde deshalb für die Finanzmärkte zum leibhaftigen schwarzen Schwan. Den konnten nicht einmal völlig überraschende Zinssenkungen vertreiben. Und das Virus droht nun, eine sich beschleunigende Abwärtsspirale einzuleiten. Denn wie schlecht die Welt auf das Coronavirus vorbereitet ist, offenbart sich in diesen Tagen. Die Reaktionen der nationalen Regierungen reichen von Panik in Italien über geflissentliche Hektik in Deutschland bis hin zu Kleinrederei durch Präsident Donald Trump in den USA. Der behauptete noch bis zuletzt, die Sterblichkeit würde überschätzt und das Virus im April durch wundersame Art einfach wieder verschwinden. Der Börsencrash hat Trump nun zwar wachgerüttelt und ihm ins Bewusstsein gerufen, dass Massnahmen von ihm gefragt sind und nicht seitens seiner Notenbank, die er am Gängelband zu führen versucht. Allerdings wird ihm nicht viel Schlaues einfallen. Das Virus wird er auch mit maximalem Aktivismus nicht wegkriegen und schon gar nicht mit seinen markigen Sprüchen und Tweets.

Zu den Sorgen im Alltag im Umgang mit dem Virus gesellen sich nun veritable wirtschaftliche Ängste. Zudem dürften die Zahlen der Erkrankungen in den USA in den kommenden Tagen drastisch zulegen, da den USA erst jetzt die nötigen Tests zur Verfügung stehen und bis anhin noch gar nicht auf das Virus getestet wurde. Es zeichnet sich immer klarer ab: COVID-19 könnte der Weltwirtschaft das Genick brechen. Diese Befürchtung kursiert hartnäckig an den Finanzmärkten, ein Grund für die heftige Marktreaktion der letzten Tage. Noch sieht man wenig in den aktuellsten Konjunkturdaten, doch das wird sich in den kommenden Wochen ändern. Wenn weite Teile der Wirtschaft stillstehen, wie etwa in Italien der Fall, wenn die internationalen Lieferketten ins Stocken geraten, weil China die Welt nicht beliefern kann, wenn rund um den Globus Betriebe ihre Angestellten nach Hause schicken, wenn weltweit Veranstaltungen abgesagt werden und die Reisenden ausbleiben, wird sich dies relativ rasch in nackten Zahlen manifestieren.

Diejenigen des ersten Quartals 2020 werden derzeit geschrieben und es dürften aus Sicht der Weltwirtschaft die schlechtesten Quartalszahlen seit Jahren werden. Der schwarze Schwan wird demnach bleiben und uns auch im Frühsommer noch beschäftigen. Zumal nach neusten Studien unwahrscheinlich ist, dass der Frühling automatisch eine Besserung der Situation bringen wird.

Eine bleibende Erscheinung
Man muss im Weiteren davon ausgehen, dass es schon im Vorfeld der Bekanntgabe der Quartalszahlen im Frühling zu einem Schwarm von Abwärtsrevisionen durch die Finanzanalysten kommen wird. Werden diese dann auch noch unterboten, droht weiteres Ungemach der Kurse. Alles hängt nun davon ab, wann sich die Märkte – man kann es leider nur so primitiv ausdrücken – ausgekotzt haben. Voraussetzung dafür ist, dass es zu keinen weiteren negativen Überraschungen mehr kommt und nicht noch weitere Bereiche der Wirtschaft durch das Virus lahmgelegt werden (müssen). Die Fallzahlen werden die nächsten Wochen stets zuoberst auf dem Radarschirm der Märkte aufleuchten und je nach Stand und Land Hoffen oder Bangen auslösen. Die Grundregeln für ein allmähliches Abflachen der Panik lauten: Abnehmende Fallzahlen in China, Italien, dem Iran und Südkorea, den mit Abstand am stärksten betroffenen Länder, bei gleichzeitig nur moderatem Anstieg der Fallzahlen in den USA. Das alles bei sich insgesamt nicht erhöhender Mortalitätsrate versteht sich.

Jede auch noch so vage Indikation einer potenziellen Wende der Krankheit zum Schlechteren wird dagegen zu weiteren Panikattacken führen und zwar so lange, bis sich die Märkte damit abfinden, dass COVID-19 eine dauerhafte und nicht etwa vorübergehende Erscheinung ist und dass wir alle lernen müssen, damit zu leben. Denn so schlimm die Einzelschicksale hinter jedem einzelnen Toten auch sein mögen, es gibt viele, weitaus schlimmere Krankheiten auf der Erde, mit denen die Menschheit lange schon umzugehen weiss. Es ist im Wesentlichen die Angst vor dem Neuen, welche Menschen allgemein, die Memmen an den Märkten aber im Besonderen in Panik versetzt. Und die Erkenntnis, dass die Ausbreitung des Virus nicht zu stoppen sein dürfte. Dagegen gibt es nun mal keine Mittel. Weder hilft monetärer Stimulus noch fiskalischer, sondern nur Zeit. Zeit, sich damit abzufinden, ach ja und etwa mehr Coolness schon auch.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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