Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Sinnfragen

Die Sicht des Raiffeisen-Chefökonomen: Sinnfragen
Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom. (Foto: zvg)

Vor knapp einer Woche: eine riesige Schlange Menschen an der Bergbahn, Hauptsaison im Grödnertal. Das übliche Gedränge, ausgefahrene Ellbogen, kein Zentimeter, der freiwillig preisgegeben wird und alle drücken fast gleichzeitig in die Gondel. Und dann tut sich plötzlich ein Slot auf und drei asiatische Skifahrer werden höflich vorgelassen. Sie bleiben allein in der 12 Personen fassenden Gondel und derweil sie dem Sichtfeld der Wartenden entgleiten, tauschen diese vielsagende Blicke aus. Jemand simuliert einen Hustenanfall und die Menge prustet sich vor Lachen. Wie heisst es doch so schön? „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen“ – Wahnsinn.

Der sich leider fortsetzt, denn es gibt diese Leute, die lauthals zu verstehen geben, wieso sie glauben, dass das Virus in China ausgebrochen sei. Und wieso es sich ausgerechnet in Italien so breit macht. Das ist diskriminierend und in keiner Weise witzig.

Widersinnig bis unsinnig
Nur wenige Tage später stoppen die österreichischen Behörden einen Zug auf dem Weg von Venedig nach München am Grenzübergang auf dem Brenner, nur weil sich zwei deutsche Frauen an Bord befanden, die stark husteten und Fieber hatten. Beide wurden in Verona negativ auf das Coronavirus getestet und hatten den Zug längst verlassen, der musste aber trotzdem halten, nachdem die italienischen Behörden Österreich über diesen Vorfall unterrichtet hatten. Dazu verfügte die Tiroler Landeswarnzentrale die Einstellung des Bahnverkehrs über den Brenner, notabene die wichtigste Zugverbindung zwischen Italien und Deutschland. Die Identität der Passagiere, die erwähntem und gestopptem Zug später in Österreich entstiegen, wurde registriert, in München dagegen konnten die Passagiere ganz normal aussteigen. Wie heisst es doch so schön? „Andere Länder andere Sitten“ – purer Widersinn. Der sich, wie wir inzwischen wissen, weiter verbreitet.

Italien, das europäische Land, das am stärksten vom Coronavirus getroffen ist, suchte bis zuletzt fieberhaft nach dem berühmten Patienten 0. Das ist in der Epidemiologie der Ersterkrankte, von dem aus sich eine Infektion verbreitet. Mittlerweile muss sich Italien den Vorwurf gefallen lassen, die Suche nach „Patient Null“ vollkommen verschlafen zu haben. Wie fahrlässig die Italiener vorgingen, hat die „Corriere della Sera“ aufgearbeitet. Doch auch wenn alles schneller gegangen wäre und besagter Mattia aus Codogno in der Lombardei früher identifiziert hätte werden können, wage ich zu bezweifeln, dass die Verbreitung des Virus in Italien hätte gestoppt werden können. Denn auch Patient Null muss sich ja irgendwo angesteckt haben, der Wortlogik folgend beim Patienten Minus 1 zum Beispiel. Und sehr wahrscheinlich waren da ja auch noch andere, die sich ganz woanders infiziert hatten. Die Suche nach dem Patienten Null, was für ein Unsinn. Der so neu nicht ist, man denke nur an Gaëtan Dugas.

Der kanadische Flugbegleiter wurde lange als der Mann gehandelt, der das HIV-Virus nach Amerika gebracht hat. Mittlerweile belegt eine neue Untersuchung der University of Arizona in Tucson, dass Dugas fälschlicherweise als „Patient Zero“ gehandelt wurde. Er wurde zu Unrecht dämonisiert. So wie jetzt dieser Mattia aus Codogno. Menschen tun sich aber nun mal schwer damit, wenn sie keine Erklärung für unbekannte Phänomene finden. Wie heisst es doch so schön? „Die Menschen haben mehr Angst vor dem Unbekannten als vor dem Gefährlichen“. Und Covid-19 ist nach heutigem Kenntnisstand wahrscheinlich viel weniger gefährlich als gefürchtet. Daher die fast schon wahnsinnigen, widersinnigen und unsinnigen Reaktionen.

Ökonomisch irrsinnig
Dazu kommt noch der ökonomische Irrsinn. Eine erste Kostprobe lieferten mal wieder die Finanzmärkte, die bekanntlich gern zu Exzessen neigen. Zunächst beobachteten sie das Ganze noch mit der gebotenen Distanz. Obwohl längst klar, dass es soweit kommen würde, warteten sie, bis sich Covid-19 nicht als lokales bzw. regionales Phänomen herausstellte, sondern auf allen Erdteilen auftauchte, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) daraufhin von einer sehr heiklen Situation sprach und der Generaldirektor der WHO Tedros Adhanom Ghebreyesus – ist ja nur logisch – dem Virus das Potenzial einer Pandemie zusprach. Darauf brachen die Börsen richtig ein. 6‘500 Milliarden Dollar Börsenwert lösten sich so innert einer Woche in Luft auf und dann? Es folgte am Montag eine heftige Gegenreaktion. Die US-Märkte realisierten einen der höchsten Tagesgewinne ihrer Geschichte, weil sie dem Irrglauben erlegen sind, die Geldpolitik könne auch das richten. Bis zu vier Zinssenkungen in den USA wurden vorübergehend eingepreist und das setzte den nötigen Druck auf, den Donald Trump wohl ganz direkt dem amerikanischen Notenbankchef weiterreichte. Und der knickte ein und überraschte am Dienstag alle mit einer Zinssenkung um 50 Basispunkte.

Unabhängigkeit der Geldpolitik war mal, heute sind die Notenbankhüter die Superhelden der Finanzmärkte und stets zu deren Diensten, wenn dort Panik ausbricht. Gegen die „Pandemie“ wird die Zinssenkung indes wenig ausrichten können, genauso wenig, wie deren absehbare Auswirkungen auf die Realwirtschaft. Wenn die Regierungen weiter mit Eigensinn verrücktspielen und starrsinnig das Unmögliche versuchen, sprich das Virus auszurotten, indem sie die Wirtschaft quasi lahmlegen, wird die Konjunktur ernsthaften Schaden nehmen. Dann kommt der wahre Trübsinn und dagegen hilft nur Scharfsinn.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

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