Raiffeisen-Chefökonom Martin Neff. (Foto: Raiffeisen)
St. Gallen – Es ist schon mehr als prekär, wie es auf unseren Strassen zu und her geht – ganz besonders zu den Stosszeiten, aber längst nicht nur dann. Die wichtigste Verkehrsader der Schweiz, die A1, ist mehr oder weniger das ganze Jahr überlastet und der Weg zur Arbeit wird für gut eine Million Pendler im Individualverkehr zur täglichen Nervenbelastung, längst nicht nur allein auf den Hauptverkehrswegen.
Weder wann noch wie man irgendwo ankommt, lässt sich auch nur annähernd voraussagen, es sei denn man plant ein riesiges Sicherheitspolster Zeit ein oder weicht auf Randstunden aus. Wenigstens können wir heute mobil kommunizieren und alle darüber informieren, dass wir voraussichtlich Verspätung haben. Doch das ist nur ein schwacher Trost.
Emotion
Warum nur haben wir jeden Tag Stau, obwohl wir ganz genau wissen, wie dem eigentlich beizukommen wäre? Wir müssten doch nur alle gleich schnell fahren, keine willkürlichen Spurwechsel vornehmen, Abstände konstant halten und nicht exzessiv beschleunigen oder abbremsen. So käme es erst gar nicht zu dem Stau auslösenden Ziehharmonikaeffekt. Doch wir realisieren, dass wir mit ein zwei geschickten Spurwechseln, den Lieferwagen, der noch eben vor uns war, um einige Meter distanzieren können. Das wiederum ist Zeichen, dass die Strategie des häufigen Spurwechsels zumindest aus individueller Sicht Sinn macht. Ich bewege mich dann – wenigstens – etwas schneller als die Masse und registriere nicht, dass mein Verhalten (mit) dazu beiträgt, dass der Verkehrsfluss harzt. Wir Ökonomen wissen genau, wieso der Egoismus obsiegt, beispielhaft umschrieben im sogenannten Gefangenendilemma. Dieses Konzept der Spieltheorie, die mathematische Methoden anwendet, um das Zustandekommen von individuellen und kollektiven Entscheidungen zu erklären, führt übertragen auf die tägliche Verkehrssituation dazu, dass wir eher dazu neigen, im Stau nicht so langsam zu kriechen wie unser Nachbar auf der rechten Spur, als gemeinsam alle etwas schneller zu fahren. So wie sich die Ganoven im Gefangenendilemma lieber gegenseitig verpfeifen, obschon Schweigen für beide die beste Strategie gewesen wäre.
Ratio
In der Wirtschaftstheorie ist die Spieltheorie ein spannender, aber nicht wesentlich vertiefter Zweig von Forschungsaktivitäten. Der Grund dahinter ist sehr einfach. Die Spieltheorie sagt nämlich nicht weniger aus, als dass herkömmliche mikro-, vor allem aber auch makroökonomische Modelle daran scheitern, den Individuen Verhaltensweisen zu unterstellen, die schlichtweg nicht der Realität entsprechen. Es ist zudem ein Verdienst der Spieltheorie, dass sie zu quantifizieren versucht, wie sich ökonomische Entscheidungen auswirken, wenn wir alle kollektiv und nicht individuell rational handeln würden. Schon allein die Bezeichnung Spieltheorie spricht Bände. Wer gegenüber Theorien tunlichst Abstand bewahrt, wird von einer Spieltheorie wahrscheinlich völlig abgeschreckt. Und doch lohnt es sich gerade in den heutigen Zeiten damit zu beschäftigen auch am Finanzmarkt, wo mehr gespielt, als rational agiert wird. Wieso gerade heute?
Negativ ist nicht gut
Ganz einfach, weil wir vor wenigen Jahren noch erstaunt darüber waren, dass es tatsächlich Nullzinsen gibt und mittlerweile davor kapitulieren, dass die Gläubiger ihren Schuldnern Zinsen bezahlen. Es ist ja nicht allein ein Schweizer Phänomen. Japan, Deutschland, Schweden u.a. verlangen heute Zinsen, wenn sie sich Geld leihen. Das ist nicht nur für den Normalbürger schwer nachvollziehbar. Es gibt auch keine wohlgefeiten Konzepte in der Theorie, geschweige denn Beobachtungen aus der Praxis, die auch nur annähernd den Wirkungsgrad von Negativzinsen auf In- oder Deflation bzw. Wachstum belegen würden. Eigentlich wollen die Verfechter des Minuszinses vor allem krampfhaft vermeiden, dass die eigene Währung nicht (weiter) aufwertet, nur birgt das Staugefahr.
Dieser Gefahr werden sich die Finanzmarktakteure, aber längst nicht nur die, mehr und mehr bewusst. Den drohenden Stau verursacht haben dann wahrscheinlich die Amerikaner, als Initiatoren der globalen Flutung der Märkte mit Geld seit 2008. Was in den USA wenigstens fürs erste klappte – Wachstum und ein bisschen Inflation – erzielt im anpassungsfeindlichen Europa oder auch in Japan nur (noch) bescheidene Wirkung. Aktuell verpuffen dort geldpolitische Massnahmen innert Tagesfrist. Natürlich sehen das die Entscheidungsträger in den Zentralbanken ebenso, nur sind sie jetzt im Dilemma. Wer zuerst aussteigt, riskiert einen Währungsschock. Nur geschickte Manöver, vom Spurwechsel über Ausbremser bis zum Fahren auf dem Pannenstreifen, sichern, nicht abgehängt zu werden bei dem Schneckentempo notabene. Für die Masse, welche die Geldpolitik gegenwärtig stemmt, erzeugt sie extrem wenig Bewegung, geschweige denn Beschleunigung.
Dabei steht eine elementare, aber unbeantwortete Frage im Raum, nachdem Nullzinsen jüngst lange die Stagnation begleiteten und positive Zinsen traditionell mit wirtschaftlicher Prosperität einhergingen: Sind Negativzinsen vielleicht eher Vorboten einer Rezession als Mittel zur Abwendung einer solchen? Den Gedanken, dass etwas Negatives (Zins) etwas Positives (Wachstum/Inflation) erzeugen soll, kann ich nicht nachvollziehen. Irgendwo ist da einen Haken. Das ahnen auch die Märkte, für die Negativzinsen übrigens genauso wenig fassbar sind wie für uns.
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen