St. Gallen – „Schweizer Wirtschaft legt ein eindrückliches Comeback hin“ titelte letztes Wochenende die NZZ am Sonntag. Die Wirtschaft habe den Frankenschock überwunden und sei nun fitter denn je. Eine sehr überschwängliche Analyse und auch etwas oberflächlich. Denn von einem breit abgestützten Aufschwung kann (noch) nicht die Rede sein. Dennoch scheint die Stimmung in der Wirtschaft immerhin langsam zu drehen.
Bestes Beispiel ist der Einkaufsmanagerindex für das Verarbeitende Gewerbe (i.e. der vielbeachtete PMI), der seit Februar nahe 60 Indexpunkten liegt, einem sehr beachtlichen Niveau also. Die PMI-Unternehmensumfrage in der Industrie ist ein ziemlich zuverlässiger Vorlaufindikator für die Schweizer Wirtschaft. Indexwerte von knapp 60 Punkten signalisieren i.d.R. schon fast Hochkonjunktur. Alle Subkomponenten des Einkaufsmanagerindex zeichnen inzwischen ein positives Bild. Nicht allein der Ausstoss der Firmen (Produktion), sondern auch die Auftragsbestände sind gemäss den knapp 250 befragten Unternehmen klar im expansiven Bereich, der bei Werten von über 50 beginnt. Die Lieferfristen, also die Dauer der Warenauslieferungen, werden deutlich länger, was auf eine unerwartet gute Auslastung in der Industrie hindeutet. Besonders augenfällig ist die eher träge reagierende Einschätzung zur Beschäftigungslage. Es sieht fast danach aus, als würden in der Industrie wieder Stellen geschaffen.
Und dennoch ist es für Euphorie noch zu früh, und für Freudensprünge gibt es schon gar keinen Anlass, denn die wiederholt genannten relativierenden Faktoren, sind nach wie vor aktuell. Bei Grossunternehmen mag der Aufschwung angekommen sein, viele KMUs kämpfen aber weiterhin mit grossen Schwierigkeiten. Zudem gibt es noch keine schlüssigen Hinweise für eine breite, branchenübergreifende Erholung. Nach wie vor sorgt vor allem die Pharmaindustrie für positive Meldungen.
Der Aufschwung beginnt im Kopf
Ein weiterer grosser Wermutstropfen: Laut NZZ ist der „Boom“(!) noch nicht in den Köpfen angekommen. Dieses Muster haben wir in den letzten zwei Dekaden immer wieder erlebt. Meist war die Lage besser als die Stimmung – zuletzt erlebt nach dem Lehman Crash, als die ganze Schweiz vor allem in Meinungsumfragen fast schon depressiv wirkte, obwohl wir gerade im Vergleich mit dem Ausland letztlich recht glimpflich davon kamen. Auch wenn es eine stark strapazierte Phrase sein mag, der «wahre» Aufschwung beginnt eben doch im Kopf – Zuversicht verleiht am ehesten Flügel.
Richtig aber wäre nicht nur „im Kopf“ sondern auch „pro Kopf“, denn auch wenn das aggregierte Bruttoinlandprodukt wächst, sagt dies noch nichts über den Wohlstandszuwachs pro Kopf aus. Starke Unterschiede zwischen den beiden Betrachtungsweisen sind nicht ungewöhnlich, bleiben aber häufig unter dem Radarschirm. Japan beispielsweise gilt als Inbegriff einer verkrusteten und wachstumsschwachen Wirtschaft. Dabei fällt das Pro-Kopf-Wachstum im Vergleich zu anderen Industrienationen schon seit Jahren überhaupt nicht ab, was angesichts des bereits erreichten hohen Wohlstandsniveaus eine Leistung ist. Die langjährige Stagnation des aggregierten Bruttoinlandprodukts ist primär dem Bevölkerungsrückgang geschuldet.
Die einzelnen «Kuchenstücke» werden nicht grösser
In der Schweiz wiederum ist das Pro-Kopf-Wachstum grundsätzlich ebenfalls beachtlich. Nach der Rezession von 2008 beispielsweise hat das BIP pro Kopf wenig überraschend das Vorkrisenniveau viel schneller wieder erreicht als andere Industrieländer. Was aber häufig untergeht: Seit drei Jahren stagniert der Wohlstand pro Kopf faktisch, obwohl die gesamte Wirtschaftsleistung in diesem Zeitraum um 4% zulegen konnte. Sprich, der „Gesamtkuchen“, wurde zwar grösser, die einzelnen „Kuchenstücke“ aber nicht, weil gleichzeitig auch die Bevölkerung wuchs und zwar massiv.
Dazu kommen die negativen Effekte der Zuwanderung. Verkehrsstaus rund um die Uhr, überfüllte öffentliche Verkehrsmittel und Verdrängung des Mittelstandes aus erschwinglichen Wohnlagen sind Komponenten, welche nicht in die Statistik einfliessen, aber durchaus präsent sind in unseren Köpfen. So präsent, dass im wohlhabenden, durch den Finanzausgleich zusehends geschröpften Kanton Zug nun politisch Druck gemacht wird, erschwinglichen Wohnraum bereitzustellen, nicht zuletzt auch um den Pendlerboom einzudämmen. Die Hypothese der Initianten dort ist einfach. Zahlungskräftige Klientel verdrängt (um jeden Preis) die traditionell Ansässigen in die Peripherie und treibt so nicht nur die Preise von Immobilien in Höhen, die für Durschnittverdiener nicht mehr tragbar sind, sondern beschert dem Kanton auch eine täglich wiederkehrende Verkehrslawine. So ganz falsch ist das nicht und schon gar kein Zuger Phänomen. Wirtschaftswachstum um jeden Preis ist längst überholt. Dann doch lieber etwas weniger Wachstum auf dem Papier, dafür aber für alle etwas mehr. (Raiffeisen/mc)
Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen