Die Sicht des Raiffeisen Chefökonomen: Think BIG
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Um das Projekt Cargo sous terrain (CST) ist es ruhig geworden, verdächtig ruhig. Das visionäre Projekt sieht ein vollautomatisiertes, unterirdisches Tunnelsystem für den Gütertransport vor, das die Ballungsräume der Schweiz effizient miteinander verbindet und so den Strassenverkehr entlastet. Die Idee ist bestechend einfach: Bereits heute sind die Autobahnen überlastet und das Schienennetz am Anschlag, doch die Schweiz wächst weiter. Mit einem Logistiktunnel vom Genfersee bis zum Bodensee soll der Schwerverkehr auf der Autobahn um 40 Prozent reduziert werden.
von Fredy Hasenmaile, Chefökonom Raiffeisen Schweiz
Die ersten Ideen zu diesem Megaprojekt entstanden in den frühen 2010er-Jahren. Eine Machbarkeitsstudie bestätigte 2013 das Potenzial eines unterirdischen Gütertransportsystems. 2017 gründeten mehr als 80 Schweizer Unternehmen und Investoren die Cargo sous terrain AG. Nur ein Jahr später wurden Investitionszusagen von über 100 Millionen Franken vermeldet. 2021 verabschiedete das Parlament ein spezielles Bundesgesetz zur Regulierung des unterirdischen Gütertransports und schuf damit eine rechtliche Grundlage für CST.
Sand im Getriebe
Doch in den letzten Jahren geriet das Projekt ins Stocken. Die Post und die SBB sind nur halbherzig mit von der Partie. Letztere zog sich 2022 sogar still und leise zurück. Viele Transportfirmen stellen die Rentabilität und die Finanzierbarkeit infrage. Diverse Gemeinden, in denen ein oberirdischer Anschluss zum Tunnelsystem – ein sogenannter Hub – geplant ist, haben Angst vor negativen Einflüssen auf Natur und Umwelt. Sie fürchten so ziemlich alles, was bei einem solchen Grossprojekt schiefgehen könnte.
Kann die Schweiz noch gross denken?
Der schleppende Verlauf des CST-Projektes wirft einige Fragen auf. Ist die Schweiz noch in der Lage, gross zu denken? Und wenn nein, was sagt das über unsere Gesellschaft und insbesondere auch über deren Zukunft aus, wenn inskünftig die visionären Würfe fehlen? Wo stünde die Schweiz heute, wenn niemand den Mut gehabt hätte, die Eisenbahn oder den Gotthard-Tunnel zu bauen? Auch diese Vorhaben verschlangen Unsummen von Geld. Sind in unserem Land längst die Bedenkenträger in der Mehrheit? Während es kaum noch gelingt, auch nur ein Windrad aufzustellen, muss für dringend benötigte Photovoltaikanlagen in den Bergen schon fast auf Notrecht zurückgegriffen werden.
Logische Nutzung der dritten Dimension
Ja, CST wäre teuer. Wer die Kosten für einen Kilometer Autobahntunnel in der Schweiz kennt, neigt dazu, das Projekt abzulehnen. So erging es auch mir, als ich erstmals von den Plänen erfuhr. Doch die Grundidee ist bestechend. Unser Verkehrssystem leidet darunter, dass wir alle Mobilitätsformen – Busse, Trams, Lastwagen, Autos, Velos, Trottinette und Fussgänger – auf einer Ebene zu organisieren versuchen. Die Grenzen dieses Ansatzes sind offensichtlich. Deshalb ist es logisch, Verkehrsströme in die Vertikale zu verlagern. Magnetschwebebahnen oder ähnliche Hochbahnen im Ausland zeugen davon. Sogar Seilbahnen erleben in Städten wieder einen Aufschwung. Nicht zuletzt zeigen die U-Bahnen grosser Metropolen, dass der Einbezug der dritten Dimension seit Langem eine bewährte Lösung ist.
Durchschaubare Kritik
Die Kritik an CST ist durchsichtig. Sie kommt insbesondere aus dem Transportgewerbe und hat einen schalen Beigeschmack. CST wäre eine direkte Konkurrenz – übrigens auch für die SBB. Perfide ist auch die Kritik, warum ein solches System bislang noch nirgendwo realisiert wurde. Mit diesem Totschlägerargument kann jede Innovation im Keim erstickt werden – und wir würden heute noch in Höhlen wohnen. Elon Musk hat sich diese Frage bestimmt nie gestellt. Wenn die Idee so falsch wäre, dann hätte nicht vor Kurzem ein japanisches Expertengremium des Ministeriums für Land, Infrastruktur, Verkehr und Tourismus die Entwicklung einer automatisierten, unterirdischen Logistikverbindung zwischen Tokio und Osaka vorgeschlagen.
Moniert wird ferner, im Untergrund könne niemals ein so dichtes Netz wie auf der Strasse entstehen. Aber das ist auch nicht erforderlich. CST funktioniert nach dem «Hub and Spoke»-Prinzip, das sich im Luftverkehr durchgesetzt hat. Zentrale Flughafen-Hubs bilden das Rückgrat, die Feinverteilung übernehmen Zubringerflüge ab kleineren Flughäfen. Kritiker verweisen zudem auf die hohen Kosten und die mangelnde Konkurrenzfähigkeit gegenüber heutigen Transportpreisen. Doch wenn in Härkingen kein Lastwagen mehr durchkommt, werden die Transportpreise rasch steigen. Dass das Nationalstrassennetz nahe am Kollaps ist, zeigen 1 die jährlich erfassten Staustunden. Im Jahr 2023 stiegen die zurückgelegten Fahrkilometer auf den Nationalstrassen um 1,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr, die Staustunden hingegen um 22,4 Prozent. Zwar könnten Strasse und Schiene noch etwas effizienter genutzt werden, doch es erscheint wenig realistisch, dass sie den vom Bundesamt für Raumentwicklung prognostizierten Zuwachs des Güterverkehrs von weiteren 31 Prozent bis 2050 noch aufnehmen können. Andere Lösungen zeichnen sich nicht ab. Eine Aufhebung des Nachtfahrverbotes gäbe etwas Spielraum, ist aber politisch nicht mehrheitsfähig.
Infrastrukturbau wäre eigentlich Staatsaufgabe
Dagegen liegen die Vorteile eines unterirdischen Transportsystems auf der Hand. Das Tunnelsystem wäre von allen Auflagen befreit, die den konventionellen Gütertransport massiv verteuern, namentlich Lärm- und Sicherheitsvorschriften. CST könnte 24 Stunden am Tag nonstop betrieben werden. Zudem sei die Frage erlaubt: Seit wann müssen Private Infrastruktur und Transportnetze finanzieren? Ist das nicht eine Staatsaufgabe? Private Akteure haben bisher rund 150 Millionen investiert. So etwas hat es in der Schweiz noch nie gegeben. Doch während breite Kreise nostalgisch Poststellen in jeder Gemeinde aufrechterhalten wollen, verpasst man aktuell gerade die Zukunft.
Nach ermutigenden Anfangserfolgen befindet sich das Projekt Cargo sous terrain gemäss dem bekannten Gartner Hype Cycle derzeit im Tal der Tränen. Es ist dem Projekt zu wünschen, dass es Durchhaltevermögen zeigt. Denn allzu viele Chancen sollten wir nicht mehr an uns vorbeiziehen lassen.